Seit 2010 hat Viktor Orban eine zwei Drittel Mehrheit im ungarischen Parlament und nutzt diese, um seiner Partei eine dauerhafte Vorrangstellung in Ungarn zu sichern. Ein Mitglied der neofaschistischen Partei Jobbik wollte sich vor der Kommunalwahl 2010 besonders empfehlen und ließ sein Blut in einem medizinischen Labor auf „genetische Rassenreinheit“ untersuchen.

 

Diese Rede wurde zu Protokoll gegeben.

Sehr geehrter Herr Präsident/ sehr geehrte Frau Präsidentin, Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Seit 2010 hat die Regierung von Viktor Orban eine zwei Drittel Mehrheit im ungarischen Parlament und nutzt diese, um der Regierungspartei eine systematische Vorrangstellung in Ungarn auch über die Wahlperiode hinaus zu sichern. Dies muss man sicherlich eine undemokratische Vorgehensweise nennen. Die Parteien CDU und CSU sind auf europäischer Ebene Mitglied in der Europäischen Volkspartei und haben bislang zu diesen Thema geschwiegen. Die Tatsache, dass der ungarische Ministerpräsident stellvertretender Vorsitzender dieser europäischen Partei ist, wird sicher hierzu beitragen, dass sich die Regierungskoalition in der Bundesrepublik in den Mantel des Schweigens hüllt.

DIE LINKE begrüßt und unterstützt den Antrag von Bündnis90/Die Grünen zur politischen Lage in Ungarn. Allerdings können wir dem Antrag in der vorliegenden Form nicht zustimmen, da er sich an der normativen Ebene festhält und die praktischen, realen Gegebenheiten in Ungarn ausklammert. Wenn man einen Antrag zu europäischen Grundwerten und Grundrechten formuliert, dann gehört eben auch dazu, eine europäische Perspektive einzunehmen und eine klare Kritik an gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen innerhalb der EU zu formulieren, wenn diese so weit von den demokratischen und rechtlichen Standards abweichen, wie dies in Ungarn der Fall ist. Wenn in einem Mitgliedsland der EU rassistische und faschistoide Tendenzen sichtbar werden, reichen diplomatische Formulierungen aus unserer Sicht nicht mehr aus.

Der Haushaltsrat wurde abgeschafft, das Verfassungsgericht in seinen Kompetenzen beschnitten. Die Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt. Es wurden menschenverachtende Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entwickelt. Arbeitslose, die länger als 90 Tage arbeitslos gemeldet sind, werden unter Polizeibewachung zu Hilfsarbeiten auf Baustellen verschickt und vor Ort in Containern gehalten. Während Orbán versucht, mit scheinheiligen Maßnahmen wie beispielsweise der sogenannten „nationalen Romastrategie“ die EU zufrieden zu stellen, werden Roma zunehmend diskriminiert und kriminalisiert. So wurden beispielsweise Stiftungen, die sich um Arbeits-, Bildungs- und Kulturprojekte der Roma kümmerten, wegen „Ineffizienz“ aufgelöst, um sie in ein „neues System“ zu überführen bzw. die staatliche Kontrolle zu zementieren.

Unabhängige Richter werden durch regimetreue ersetzt. Obdachlosigkeit wird verboten und mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt. Antisemitische Äußerungen in der ungarischen Medienlandschaft werden unkritisch hingenommen. Der gesamte Kulturbereich wird umstrukturiert. Während Filmförderung in Ungarn als Instrument der Zensur genutzt wird, wird der Chef der rechtsradikalen MIEP-Partei, István Csurka, in einem völlig undemokratischen Auswahlprozess Theaterintendant des „Neuen Theater“ in Budapest, ein Mann, der immer wieder mit antisemitischen und radikal nationalkonservativen Äußerungen auffällt.

In Gyöngyöspata wurden Ostern 2011 die Roma durch das Rote Kreuz evakuiert, nachdem eine neofaschistische Bürgerwehrgruppe wochenlang den Ort belagerte. Die Regierung stellte dies später als „lange geplanten Osterausflug“ dar und setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der klären sollte, „wer Ungarn diffamiert“ hat. Unter dem Schutz der Jobbik können sich die rechtsradikalen „Bürgerwehren“ organisieren und Roma bedrohen und terrorisieren. Medien zufolge versehen heute einige „Bürgerwächter“ aus Gyöngyöspata, die zum eingeführten staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm abkommandiert wurden, Aufsichtsarbeiten über Roma.

Wie Pester-Lloyd, die Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa in dieser Woche berichtet, hat sich ein Parlamentsabgeordneter der neofaschistischen Partei Jobbik vor der Kommunalwahl 2010 gegenüber seinen potentiellen Wählern besonders empfehlen wollen und in einem medizinischen Labor sein Blut auf „genetische Rassenreinheit“ untersuchen lassen. Dies hat ihm ein Zertifikat ausgestellt, in dem bestätigt wird, dass er „weder Roma noch Juden als Vorfahren“ hat. Der Skandal ist dabei nicht einmal, dass der Abgeordnete der Jobbik auf eine solche Idee kam, sondern, dass ein zertifiziertes medizinisches Labor in Ungarn sich zu solcher „Analyse“ bereitfand. Als ob es ein „Roma-“ oder ein „Juden-Gen“ gäbe.

Am 4. Juni beging Ungarn auf Anordnung der Regierung wieder den „Trianon-Gedenktag“. Dieser war auch Hauptthema einer „Festsitzung“ im Parlament. Der neue Staatspräsident János Áder (Fidesz) sprach vom „ungerechten Frieden“ von Trianon, der eine „beschämende Situation, sogar für die Menschen der Siegermächte“ produzierte. Das wäre ja in etwa so, als würde in Deutschland ein Versailles-Gedenktag eingeführt. Aus meiner Sicht ist das unerträglicher Revanchismus. Ungarn beschädigt die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei systematisch und produziert dadurch in hohem Maße ethnisch motivierte politische Spannungen in Osteuropa, die auf eine territoriale Neuordnung in Richtung „Groß-Ungarn“ ausgerichtet sind.

Warum führte die enorme Gefährdung von Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Missachtung der Menschrechte in Ungarn bisher zu keinem einzigen Vetragsverletzungsverfahren gegen Ungarn? Es ist beschämend, dass erst die Bedrohung der Unabhängigkeit der Zentralbank durch die neue ungarische Verfassung zum Handeln auf europäischer Ebene führte. DIE LINKE ist der Meinung, in Europa sollten mehr Grundwerte und mehr Grundrechte zählen als die Kapitalfreiheiten. Und weil wir das grundlegende Ansinnen von SPD und Bündnis90/Die Grünen begrüßenswert finden, aber im Antrag selber die gesellschaftlichen Realitäten mit keinem Wort erwähnt sind, stimmen wir hier mit Enthaltung.