Am 1. Februar hielt Thomas Nord im Rahmen der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages eine Rede zum Arbeitsprogramm 2019 der Europäischen Kommission:

„Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!

Wir reden heute über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2019. Sie unterrichtet uns darüber, welche Prioritäten sie noch vor der Europawahl umsetzen will. Dies gilt für den Beschluss des mehrjährigen Finanzrahmens bis 2027, für den Ausbau des ESM zur Krisenbewältigung und das Europäische Semester.

Das Wachstum in der Europäischen Union erreicht demnach den höchsten Wert seit zehn Jahren, und die Beschäftigungszahlen sind wieder auf Vorkrisenniveau. „Alles ist oder wird gut“ ist der Subtext.

Gar nicht gut liest sich aber der Absatz zur Migrationspolitik. Angesichts der Todesdramen auf dem Mittelmeer ist die Aussage – Zitat – „Auf der zentralen Mittelmeerroute war ein erheblicher Rückgang“ der Migration „zu verzeichnen“ ein blanker Zynismus.

Auch an anderen Stellen kollidiert der Text der Kommission mit der sozialen und politischen Realität in den Mitgliedstaaten. Diese Realität ist jedoch entscheidend für den Zusammenhalt der Europäischen Union.

Es stimmt: Die allgemeine Arbeitslosigkeit in der EU liegt im Durchschnitt bei unter 7 Prozent. Allerdings liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der EU bei 15 Prozent, in Griechenland bei 40 Prozent, in Spanien und Italien bei 30 Prozent, in Frankreich bei über 20 Prozent, in Deutschland bei nur 6 Prozent. 2008 lag sie in Griechenland, Italien und Spanien bei knapp über 20 Prozent. Das heißt: Sie ist in diesen Ländern massiv gestiegen. Nur in Deutschland, Polen und Ungarn ist sie aus sehr unterschiedlichen Gründen signifikant gesunken. Diese Zahlen zeigen entgegengesetzte Entwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten. Das ist auch ein Grund für massive Stimmungsunterschiede in diesen Staaten.

Die Folgen der Finanzkrise mögen auf dem technischen Level bearbeitet sein, die Währungsunion durch die Niedrigzinspolitik der EZB stabilisiert, die Haushalte der Euro-Mitgliedstaaten entlastet. Auch die Bankenunion ist weit vorangetrieben. Aber: In dem Text fehlt unter anderem jede Thematisierung der Vertragsverletzungen wegen makroökonomischer Ungleichgewichte, zum Beispiel durch uns, durch Deutschland. Auch diese sind ein wesentlicher Grund für das politische Auseinanderdriften innerhalb der Union, für unterschiedliche Stimmungen in den Mitgliedstaaten. Bei den Vorschlägen zur Steuerpolitik fehlt die Bekämpfung der wachsenden Verteilungsungleichheit in Europa und in den Mitgliedstaaten.

In vielen Ländern der Union sind Bürgerinnen und Bürger Verlierer dieser Entwicklung. Daraus resultiert der Unmut, dass die EU viel unternommen hat, um Währung und Banken zu retten, aber wenig für sozialen Frieden und Zusammenhalt getan hat.

Die jüngsten Proteste in Frankreich sind nur ein Beispiel dafür, die aktuellen Wahlergebnisse für Konservative und Sozialdemokraten in vielen Mitgliedstaaten ein anderes. Das gilt auch für Deutschland.

Bedauerlicherweise flüchten sich viele Wählerinnen und Wähler in die Illusion, dass ein abgeschotteter Nationalstaat eine Lösung dieser Probleme brächte. Die Zahl nationalistischer Abgeordneter kann sich nach Prognosen in der Europawahl 2019 verdoppeln. Die politischen Kräfteverhältnisse im Parlament werden sich stark verändern und in die Neubildung der europäischen Institutionen einfließen.

Die jetzige Kommission hat vor fünf Jahren ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Mitglieder wurden von den damaligen Regierungen vorgeschlagen. Seitdem haben alle Mitgliedstaaten neu gewählt. Wo Regierungen bestätigt wurden, haben sie oft starke Veränderungen ihrer Programmatik vorgenommen; in vielen Ländern haben Regierungen vollständig gewechselt oder sich in ihrer Zusammensetzung stark verändert. Die Veränderungen bedeuten in der Konsequenz: Die jetzigen Kommissare haben am Ende ihrer Amtszeit nur noch geringe Unterstützung in ihren Herkunftsländern, im Rat und im zukünftigen EU-Parlament.

Auch das zeigt, warum das Arbeitsprogramm 2019 aus meiner Sicht ein zweckoptimistischer Text ist, der wiederholt auf den EU-Gipfel in Sibiu zwei Wochen vor der Wahl im Mai verweist. Das aber ist kein Treffen der Kommission unter der Leitung von Jean-Claude Juncker, sondern eines der Staats- und Regierungschefs. Ratspräsident Tusk trifft auf Sebastian Kurz, der mit der rechtsextremen FPÖ koaliert. Er trifft auf Giuseppe Conte, der ein Platzhalter für die rassistische Politik von Matteo Salvini ist. Er trifft Mateusz Morawiecki, Mitglied der rechtspopulistischen PiS, und auf Herrn Orban, den „kleinen Diktator“ – wie Herr Juncker sagt – und Freund der CSU, die künftig den Kommissionspräsidenten stellen will.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Regierungen haben das Recht, die Kommissare vorzuschlagen, die vom neuen EU-Parlament bestätigt werden müssen. Zusammen macht das wenig Hoffnung, dass wirklich alles gut wird. Und damit das klar ist: Darüber kann man nicht erfreut sein. Ein Europa der Vaterländer und eine Rückkehr ins 19. und 20. Jahrhundert ist eben keine Lösung der Probleme, auch wenn das hier einige glauben.

Die EU braucht heute eine sozial gerechte, ökologische, friedliche, nachhaltige Politik, sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in Gänze. Nur dann wird sie eine Zukunft haben.“

 

Stenografischer Bericht der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages, Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019: Plenarprotokoll 19/78