Im Januar haben die französische und die deutsche Linke eine verstärkte strategische Zusammenarbeit für die nächsten Jahre beschlossen. Auslöser für diese Vereinbarung ist die Erkenntnis, dass linke politische Kräfte nur dann eine Chance gegen die neoliberale Ausrichtung der EU haben werden, wenn sie sich europäisch koordinieren. Im Mai haben wir eine inhaltliche Verständigung zu den Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik durchgeführt. In den verbleibenden drei Sitzungswochen dieser Legislatur möchte ich die gedankliche Linie vorstellen, die ich auf dem Kolloquium vorgetragen habe.

Die Euro-Krise ändert das europäische Bewusstsein, die Wahrnehmung der Europäischen Union als Raum von Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Wohlstand weicht einer Wahrnehmung von existenziellen Fragen und Problemen. Vielen fällt auf: Die Europäische Union hat sich von einem westeuropäischen Integrationsprojekt zu einer Institution der Durchsetzung neoliberaler Politik gewandelt.

Im Alltagsbewusstsein vieler Menschen ist die EU ein großer Tanker in schwerer See und in gefährlicher Nähe der Klippen von Euroland. In dieser Lage wird eine Schiffssektion angebaut, zugleich Schiffsinnenwände entfernt, kreuz und quer werden Hilfsseile in den Schiffskörper eingezogen. Aus Kostengründen werden die Feuerlöschanlage, die Abwasserpumpen und die Rettungsboote eingespart. Nachdem Teile der Mannschaft die geplante Schiffsordnung wegen fehlenden Standards in einer Urabstimmung gekippt haben, begnügt sich die Schiffsführung mit einer Sammlung von inkompatiblen Bedienungsanleitungen, die keiner durchschaut, die schnell zusammengeheftet wurden und je nach Belieben interpretiert werden.

Ein Teil der Mannschaft ist durch eindringendes Wasser bedroht und versucht sich in höher gelegene Decks zu retten. Einige fürchten den Untergang, wollen vermeintlichen Ballast abwerfen und planen die Reduktion des Rumpfes und zwar bei laufendem Betrieb und mitten auf hoher See. Derweil wird auf der Brücke darüber gestritten, ob Olivenöl auf den Tischen des Schiffrestaurants in Karaffen angeboten werden darf.

Vor wenigen Wochen, Anfang April, hat uns der Tod von Margaret Thatcher daran erinnert, dass der Siegeszug des Neoliberalismus nicht erst nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus eingesetzt hat, sondern schon eine geraume Zeit vorher. Wenn man die politische Lebensleistung von Thatcher zusammenfassen will, dann hat dies niemand treffender getan als der 2006 in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnete Ken Loach: „Erinnert euch, sie hat Mandela einen Terroristen genannt und den Folterer und Mörder Pinochet zum Tee empfangen. Wie sollen wir Thatcher ehren? Lasst uns ihre Beerdigung privatisieren. Lasst uns ihre Beerdigung öffentlich ausschreiben. Der billigste Bieter bekommt den Zuschlag.“ Besser kann man diese Frau und ihre Politik nicht würdigen.

Sie bedeutet die Rückführung der Staatsquote, Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben und Deregulierung des Kapitalverkehrs, das ist das kurz gefasste Credo des Neoliberalismus. Der Name von Thatcher steht für die praktisch-politische Einführung des marktradikalen Neoliberalismus in Westeuropa. Er bedeutet: Kapitalismus pur, Effizienz und wirtschaftlicher Profit statt sozialer Gerechtigkeit. Entmachtung der Politik und das Primat des freien Markts. Militaristischer Patriotismus und starke soziale Ungleichheit. Es bedeutet Minimalstaat und Ausbeutung. Deshalb hat ihr Tod in Britannien fast ein viertel Jahrhundert nach ihrem Amtsauszug so große Emotionen ausgelöst.

Der Kalte Krieg endete mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und obwohl dies das politische Ziel des Westen war, kam es doch überraschend und unerwartet. Mit der deutschen Vereinigung wurde der eiserne Vorhang zu einem Zeitpunkt aufgezogen, als die Eiserne Lady, die doch eher starrsinnig als standfest war, aus Downing Street ausziehen musste. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurde eine neoliberale Schocktherapie vollzogen, durch den Zusammenbruch der Industrie im Osten und ihre vollständige Privatisierung stieg die Auslastung der Betriebe im Westen. Die Chance zur Angleichung der Lebensverhältnisse wurde nicht genutzt, im Gegenteil wurde mit dieser Politik die Spaltung verstetigt.

Die mittel- und osteuropäischen Staaten drängten in die Europäische Union und vollzogen die von ihnen erwarteten neoliberalen Anpassungsschocks. Die neuen Regierungen setzten zumeist höchst bereitwillig die radikalen Privatisierung und die im Westen herrschende neoliberale Politik um.

Die Bundesrepublik Deutschland wandelte sich im kommenden Jahrzehnt von der Bonner zur Berliner Republik und wurde zum neuen politischen Zentrum auf dem europäischen Kontinent. Dieser Wandel wurde durch den Regierungswechsel von Kohl zu Schröder auch nach außen sichtbar.

Die Rot-Grüne Bundesregierung hat seit 1998 die Privatisierungen der CDU/CSU/FDP-Koalition durch eine massive Umverteilung des Reichtums von unten nach oben ergänzt. Der Spitzensteuersatz wurde um 10% gesenkt, die Unternehmenssteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer wurden massiv reduziert. Hedgefonds wurden zugelassen und in der Finanzpolitik massiv dereguliert. Erstmals seit 1945 wurde in Deutschland ein Kriegseinsatz beschlossen. Irgendwie darf so etwas bei der Vollendung neoliberaler Politik nicht fehlen. Mit der Verkündung der Agenda 2010 durch den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003 änderte sich das gesellschaftliche Klima. Begründung für diese „Reform“ war die medial verstärkte Bewertung Deutschlands als kranker Mann Europas. Daher rührt der politische Impuls für den deutschen Hartz-Bericht.

Er wurde im Februar 2002 von der Bundesregierung in Auftrag gegeben und am Nachmittag des 16. August 2002 erstmals im französischen Dom in Berlin vor 600 geladenen Gästen öffentlich diskutiert. Der umstrittenste Teil der Umsetzung, die sogenannten Hartz IV-Gesetze, trat zum 1. Januar 2005 in Kraft. Die Arbeitsmarktreformen, Hartz-Gesetze genannt, brachten zur schon praktizierten Privatisierung und Deregulierung den massiven Abbau sozialer und öffentlicher Leistungen. Hartz IV beendete auch in der öffentlichen Wahrnehmung vieler die Existenz der SPD als Sozialstaatspartei und der einsetzende soziale Protest brachte in der Konsequenz DIE LINKE als neue gesamtdeutsche Partei hervor.