Der Eine oder die Andere dürfte in Österreich wohl über die »Klebstoffpanne« bei den Briefwahlkarten höchst erleichtert gewesen sein. (Durch die vorzeitige Lösung der Gummierung der Briefwahlumschläge hat sich die Möglichkeit für Manipulationsvorwürfe eröffnet.) Mit der Hilfe eines technischen Fehlers konnte sich Österreich so terminlich von der »Volksabstimmung« in Ungarn absetzen. Die Verschiebung der Wiederholung der Stichwahl zum Amt des Bundespräsidenten vom 22. Mai wird jetzt am 4. Dezember durchgeführt und nicht mehr am 2. Oktober, an dem das Referendum in Ungarn über den Zuzug von »Nicht-Ungarn« stattfindet.

Es waren die Bilder der Flüchtlinge an der ungarischen Grenze, die im September 2015 zum Anstoß für die Änderung der deutschen Flüchtlingspolitik wurden. Ende des gleichen Monats wurde der Plan der EU zur Verteilung von Flüchtlingen durch Mehrheitsentscheidung gegen die Stimmen von Slowakei, Tschechien, Ungarn und Rumänien gefasst. 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland, Italien und Ungarn sollten auf andere EU-Länder verteilt werden. Ungarn und Slowakei sollen nach dem vorliegenden EU-Schlüssel 2.300 Menschen aufnehmen. Slowakei und Ungarn haben vor dem Europäischen Gerichtshof gegen verpflichtende Flüchtlingsquote geklagt. Die EU-Kommission hat erneut ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn auf den Weg gebracht, weil es aus EU-Sicht das Asylrecht mehrfach schwer verletzt hat.

Als eine Reaktion darauf kündigte Orbán im Vorfeld des Brexit-Referendums am 24. Februar 2016 eine Volksabstimmung über Zuwanderung an. Am jetzigen Sonntag, dem 2. Oktober sind ca. 8 Mio. Ungarinnen und Ungarn dazu aufgerufen, über die Frage abzustimmen: »Wollen Sie zulassen, dass die Europäische Union bestimmen darf, dass nichtungarische Bürger in Ungarn ohne Zustimmung des nationalen Parlamentes angesiedelt werden?« Die Regierung stilisiert das Referendum zu einer Schicksalsfrage, mit der das ungarische Volk darüber entscheide, ob es »Souverän seiner Politik« bleibe oder sich der »Brüsseler Elite« unterordnen und »islamische Überfremdung« erdulden müsse, die Ungarns »christliche Identität« gefährde.

Der ungarische Verteidigungsminister ist gar der Meinung, dass ein Nein zum ungarischen Referendum ein aktiver Beitrag zur Landesverteidigung wäre. Nach Hannah Arendt ist der Volksbegriff zweideutig, er kann nach den Richtungen »Demos« und »Bios« ausgelegt werden. Von Orbán und seiner Gefolgschaft wird der Volksbegriff in Richtung »Bios« ausgelegt. Der Landesbegriff wird beim Verteidigungsminister in seinen Konturen als Raumbegriff sichtbar. In Ungarn verschwimmen die Grenzen zwischen »Volksabstimmung« und »völkischer Abstimmung«. Worüber sich – nebenbei bemerkt – die Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), Frauke Petry, freuen dürfte. Sie will den Begriff des »Völkischen« auch in Deutschland wieder »positiv« besetzen. Man sieht an Orban und seinem Gefolge, wohin diese Vorstellung von »positiv« geht.

Als einzige Chance, das Referendum in Budapest zu Fall zu bringen, gilt die von Fidesz selber heraufgesetzte Mindestbeteiligungsquote von 50%. Die Oppositionsparteien und oppositionelle zivilgesellschaftliche Gruppen rufen deshalb zum Boykott auf. Seit dem Antritt der Regierung Orbán haben etwa eine halbe Million Ungarinnen und Ungarn das Land verlassen. Sie haben die europäischen Grundfreiheiten in Anspruch genommen. Je nach Ausgang des Referendums steht eine weitere Aufschaukelung des Konflikts bevor, an dessen Ende die Grundfreiheiten der EU für Ungarn möglicher Weise nicht mehr gelten. Denn in der politischen Zuspitzung ist das Referendum eine Abstimmung über Rauswurf, Austritt oder Verbleib in der EU.

Die Stichwahl in Österreich wird jetzt am gleichen Tag wie das Referendum in Italien über die Verfassungsänderung durchgeführt. Im politischen Kern der italienischen Verfassungsreform geht es um die gravierendsten Veränderungen seit 1948. Die Parität des Zwei-Kammersystems soll abgeschafft werden. Die italienische Regierung soll durchsetzungsfähiger werden, denn Italien steckt trotz einiger Bemühungen im Sumpf der Euro-Krise fest. Die Wirtschaft dümpelt vor sich hin. Die Banken sind nicht saniert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Staatsschulden enorm. Über Italien schwebt erneut die Gefahr, unter den Rettungsschirm zu müssen.

Die Zustimmung im Parlament ist auch in der eigenen Partei nicht sicher, deshalb hat Ministerpräsident Matteo Renzi (Partito Democratico) seine persönliche Karriere mit der Zustimmung zur Verfassungsreform verbunden. Auch hier wird die Machtfrage über die Sachfrage gestellt. Drei Monate nach der Abstimmung im Vereinten Königreich macht das Wort vom »Renzit« die Runde. In Wien hat man mit der technisch verursachten Terminverlegung von Oktober auf Dezember zwar den Inhalt der eigenen Wahl zwischen Weltoffenheit und kleinmiefigem Nationalismus nicht verändert. Aber wenn man eine politisch-symbolische Deutung vornimmt, ist die Differenz der Begleitmusik aus Italien und Ungarn doch erheblich. Und das lässt wenigstens für Wien eine kleine Hoffnung schimmern.