Der neue Artikel von Thomas Nord behandelt die politische Lage in Estland nach den Wahlen.
Wahlen in Estland
E-Voting und Koalitionsprobleme
Estland ist der nördlichste Staat des Baltikums, auf der anderen Seite der Meerenge liegt Finnland, nach Osten liegt Russland und im Süden Lettland. Die rund 890.000 Wahlberechtigten waren am 3. März zur Wahl des nationalen Parlaments Riigikogu aufgerufen. Das Einkammerparlament hat nach Verfassung 101 Mitglieder und wird für 4 Jahre nach Verhältniswahlrecht gewählt, dabei gilt wie in Deutschland eine Fünf-Prozent-Hürde. In Estland leben viele Menschen aus Russland, die keinen Pass haben und somit nicht wahlberechtigt sind.
Das Besondere an der Wahl in Estland ist die seit 2005 bestehende Möglichkeit der Stimmabgabe via Internet, E-Voting. Aus deutscher Sicht ist es auch ungewöhnlich, dass keine größere kritische Diskussion über Wahlfälschung und Manipulationsmöglichkeiten geführt wird. Vom E-Voting haben 247.232 Estinnen und Esten Gebrauch gemacht, das entspricht 28 % aller Wahlberechtigten und 43,9 % aller abgegebenen Stimmen. Im Unterschied zur analogen Wahl mit Stimmzettel war die Möglichkeit der Stimmabgabe nicht auf einen Tag begrenzt, sondern vom 21. bis zum 27. Februar möglich, eine ganze Woche.
Die Wahlbeteiligung lag mit 63,7% in etwa 0,5% unter der Beteiligung von 2015. Aus der Möglichkeit der Internetwahl resultiert keine höhere Wahlbeteiligung als in den Ländern, in denen der Wahlgang auf einen Tag begrenzt ist und persönlich an der Wahlurne abgegeben wird. Im Ergebnis der Wahl ist aus dem Sechs-Fraktionen-Parlament ein Fünf-Fraktionen-Parlament geworden. Wie in anderen Ländern sind stärkere Bewegungen in der Parteienlandschaft zu erkennen.
Die Estnische Reformpartei, Reformierakond, eine als klassisch liberal eingestufte Partei, hat 0,9% Prozentpunkte verloren und ist mit 28,9% stärkste politische Kraft im Parlament geblieben. Sie hat 34 Mandate bekommen und die Initiative zur Regierungsbildung übernommen. Die amtierende Parteivorsitzende Kaja Kallas ist die Tochter von Siim Kallas, der die Partei 1994 gegründet hat. Eine Forderung ist die Senkung der Körperschaftssteuer auf 18%. RE ist Mitglied der liberalen Fraktion im Europaparlament (ALDE).
An zweiter Stelle steht mit 23,1% (26 Mandate) die Estnische Zentrumspartei Keskerakond, die knapp zwei Prozent verloren hat und derzeit den Ministerpräsidenten stellt. Auch sie ist wirtschaftsliberal, betont aber die ausgleichende Rolle des Staates in der Marktwirtschaft und befürwortet eine progressive Einkommenssteuer.
An dritter Stelle ist die Estnisch Konservative Partei gekommen, Eesti Konservatiivne Rahvaerakond, Nachfolgerin der Estnischen Volksunion. Sie hat bei ihrem zweiten Wahlantritt 9,7% hinzugewonnen und mit 17,8% nun 19 Mandate erhalten. Inhaltlich hat sie sich z.B. stark gegen die EU-Flüchtlingsverteilungsquote ausgesprochen und einen Wahlkampf gegen Zuwanderung gemacht.
Die Partei Vaterland (Isamaa) ist als Mitte-Rechts-Partei mit 11,4% und 12 Mandaten auf den vierten Platz gekommen und hat mit Blick auf die Wahl 2015 rund 2,3% verloren. 2011 hatte sie noch über 20%. Isamaa tritt für einen starken Freiheitsbegriff ein und sie gesteht allen Ethnien in Estland ein Recht zu, ihre kulturellen Traditionen zu pflegen, bestehen aber auf Estnisch als Staatssprache. Sie stehen für eine Reduzierung der Staats- und Regierungskosten.
Mit 9,8% ist die Estnische Sozialdemokratie, Sotsiaaldemokraatlik Erakond, auf dem fünften Platz eingelaufen und hat mit einem Verlust von 5,4% noch 10 Mandate. Die erst 2014 gegründete liberalkonservative Eesti Vabaerakond ist nach einem Überraschungserfolg um 7,5% auf 1,2% abgestürzt und nicht mehr im Parlament vertreten.
Die Verhandlungen über eine Regierung gestalten sich schwierig (51 Mandate). Sowohl die Reformpartei als auch Zentrumspartei Keskerakond haben sich gegen eine Regierungsbeteiligung von der rechtsnationalistischen EKRE ausgesprochen. Die Vorsitzende der Reformpartei Kallas möchte mit der Keskerakond koalieren (60 Mandate), die jedoch hat abgelehnt. Nun werden Gespräche mit der Sozialdemokratie und der Vaterlandspartei geführt (56 Sitze). Doch das Verhältnis zwischen Vaterlandspartei und Sozialdemokratie gilt als äußerst schwierig und so stehen die Gespräche unter keinem guten Stern.
Derzeit wird in Estland eine Diskussion darüber geführt, ob das E-Voten zu einer Veränderung des Stimmverhaltens und der Stimmbeteiligungen führt. So ist der Anteil der Frauen bei den Wahlen gestiegen und die Gruppe der 35 bis 44-jährigen hat den größten Anteil. Unabhängig davon lässt sich jedoch sagen, dass das E-Voten nicht von der Schwierigkeiten und Hürden realer politischer Verhandlungen befreit, die nach der Wahl auftauchen.
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