Viele wünschen sich ein »Zurück« zur »alten Normalität«, doch das Virus verschwindet nicht und »normal« war schon lange nichts mehr.
Corona-Virus
Kein Zurück zur Normalität
Am 11. März wurde von der WHO eine Pandemie festgestellt, eine globale Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch eine neue, in seinen Schadwirkungen noch unbekannte Virusinfektion. In teils stark kontroversen politischen Verhandlungen haben sich Bund und Länder Mitte März auf weitreichende Reglementierungen für Gesellschaft und Wirtschaft geeinigt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Eindämmungsstrategie wurde am 23. März auf Bundesebene ein Nachtragshaushalt in Höhe über 156 Milliarden Euro bewilligt, alle im März und April beschlossenen Maßnahmen zusammen belaufen sich für Deutschland auf ca. 1,2 Billionen Euro. Auch auf Länderebene wurden Nachtragshaushalte beschlossen, in Brandenburg in Höhe von 15,2 Milliarden Euro bei einem regulären Haushalt von 13,2 Milliarden Euro für das Jahr 2020. Auf europäischer Ebene ist der Beschluss über ein Wiederaufbauprogramm bis heute offen, die Mitgliedsstaaten finden keine Einigung über Höhe, Finanzierungsmodus und Verteilung von Geldern. Angesichts des verhärteten Streits über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27 wird dadurch der Gegensatz der Nord- und Südländer noch schärfer, als er bereits ist.
Mitte Mai zeigen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus Erfolg. Die Infektionszahlen bewegen sich auf niedrigem Niveau, die Anzahl schwerer Verlaufs- und Todesfälle ist in Deutschland nicht so hoch, wie anfänglich befürchtet. Die wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse haben in den vergangenen Wochen rapide zugenommen und zu neuen, auch veränderten Einschätzungen im Vergleich zum Zeitpunkt vor 10 Wochen geführt. Dies ist ein Erfolg des gemeinsamen Kampfes gegen das Corona-Virus.
Gesellschaftlicher Konsens – kaum wahrnehmbare Opposition
Aber gerade durch den Erfolg zeigt sich ein politisches Paradoxon, es besteht in dem Vorwurf, die beschlossenen Maßnahmen seien zu weitgehend gewesen. Der Politik sei weit über das Ziel hinausgeschossen. Die Menschen wurden ihrer politischen und wirtschaftlichen Freiheitsrechte, die das Grundgesetz garantiert, völlig unnötig beraubt. Das Virus sei in seiner Gefahr nicht so schlimm. Aber wenn man auf die Situation in anderen Ländern schaut, sieht man, es hätte wesentlich schlimmer kommen können.
Durch das gemeinsame Aushandeln zwischen Bund und Ländern mit ihren divergenten Regierungskoalitionen – z.B. mit der Linken in Thüringen und den Grünen in Baden-Württemberg – wurden über diesen Weg auch die Oppositionsfraktionen im Bundestag politisch verantwortlich eingebunden. Dies war sicherlich vorausschauendes Handeln, um im Nachgang nicht allein mit der Regierung ins Kreuzfeuer zu geraten. Aber es war –wohlwollend – auch die Erkenntnis, dass der Kampf gegen Corona nur dann erfolgreich sein kann, wenn möglichst viele mitziehen.
In der Konsequenz fiel die parlamentarische Opposition zunächst faktisch aus. Zumal auch die Parteimitglieder von der Basis bis in die Vorstände erst lernen mussten, mit der Situation umzugehen und ihre Arbeitsweisen umzustellen. Weil auf Grund der Kontaktbeschränkungen auch keine öffentlichen Demonstrationen zugelassen waren, fehlte das notwendige kritische Subjekt. Diese Fehlstelle wurde eine Quelle politischen Unmuts, die sich heute artikuliert, dabei über eine rational nachvollziehbare Kritik in Teilen weit hinausgeht. Anti-aufklärerische, rechtsextreme und weltverschwörerische Anschauungen haben sich daruntergemischt. Mehrheitlich scheint es jedoch so, dass die beschlossenen Maßnahmen im Großen und Ganzen für vernünftig und dem Gefahrenpotenzial der Pandemie für angemessen gehalten werden.
Ein Virus hat keine Telefonnummer
Aus linker Sicht ist es richtig, zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu unterscheiden. Die Erforschung eines neuartigen Virus und seiner Gefahren für Mensch und Gesellschaft liegen primär im Bereich der Naturwissenschaften. Ein Virus wird zum Forschungsgegenstand und nicht zum Verhandlungspartner. Es ist Objekt und nicht Subjekt. Ein Virus hat keine Email-Adresse, keine Telefonnummer, ist nicht gewerkschaftlich organisiert, hat keine Lobby und keine Parteimitgliedschaft. Die primäre fachliche Expertise liefert die medizinische Fakultät, nicht die Politikwissenschaft oder die Soziologie. Es gibt keine politische Virologie, lediglich politische Schlussfolgerungen aus medizinischen Befunden. Es ist zynisch, in einer solchen Situation wie von Wolfgang Schäuble eine politische Differenz zwischen Würde und Leben aufzumachen. Ohne Leben gibt es keine Würde.
Die politischen Schlussfolgerungen sind je nach links und rechts unterschiedlich, und es ist gut, sie gegenüberzustellen. Selbstverständlich ist es notwendig, sie beständig zu überprüfen und einer radikalen Kritik zu unterziehen. Die pandemiebedingten Freiheitseinschränkungen müssen, wann immer möglich, sofort zurückgenommen werden. Der gesamte politische Behandlungsprozess muss einer nachträglichen Evaluation unterzogen werden. Dabei geht es auch um vorausschauendes Lernen, denn in Deutschland ist seit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren keine vergleichbare Situation aufgetreten. Berichte über Seuchen wie die Pest liegen zum Glück noch weiter in der Vergangenheit, dies sollten wir uns stets vor Augen halten.
Aus linker Sicht steht die Kontrolle der sozialpolitischen Folgen der Beschränkungen ganz oben auf der Tagesordnung. Sie liegt im gesellschaftspolitischen Spannungsfeld, oftmals zwischen Neoliberalismus und demokratischem Sozialismus, zwischen reaktionärem Paternalismus und progressiver Modernität. Das neoliberale Dogma, wonach Gesundheit eine Ware ist und Krankenhäuser eine Kapitalinvestition sind, die einer hohen Renditeerwartung unterliegen, gehört an erster Stelle kritisiert und korrigiert. Das Gesundheitswesen wurde zu lange -oft auf dem Rücken der dort Arbeitenden- kaputtgespart. Gesundheit ist keine Ware, ein Patient kein Kunde.
Für eine sozial-ökologische Neuausrichtung kämpfen
Ebenso sind die Arbeitsbedingungen, wie sie jetzt wieder in der großen Fleischindustrie sichtbar geworden sind, eine Zumutung, die abgeschafft gehört. Die Unterbringung von hauptsächlich rumänischen und bulgarischen Arbeitern in schlechten Wohnungen mit Platzmangel unter miserablen hygienischen Bedingungen muss sofort verbessert werden. Selbstverständlich war es notwendig, mit den Gewerkschaften eine Erhöhung des Kurzarbeitgeldes und die stärkere Unterstützung von Solo-Selbstständigen zu fordern. Auch Hartz-IV-Betroffene dürfen nicht allein gelassen werden und brauchen eine Erhöhung der Sätze, weil die alltäglichen Anforderungen an den Gesundheitsschutz höher geworden sind.
Die Debatten über die Aufhebung der Beschränkungen werden oft mit einem »Zurück« zu »alter Normalität« verbunden. Aber zum einen wird das Virus nicht verschwinden. Zum anderen gibt es schon seit der Finanzkrise 2007 f., der Euro-Währungskrise 2010, den Kriegen, die dem arabischen Frühling folgten, der Migrationskrise von 2015 und der Klimakrise kein »Normal« mehr. Aus globaler Sicht ist Krise, Verwerfung, Not, Elend und Unsicherheit zu oft Alltag. In der EU ist der Kampf zwischen einer immer engeren Union und dem Beharren der Nationalstaaten auch keine normale Situation. Viele Gesellschaften reagieren darauf mit der Wahl von autoritären Politiken. Das alles ist keine erstrebenswerte Gegenwart, es gibt keinen Grund, dorthin zurückzukehren.
Aus linker Sicht sollte mit der Aufhebung der Corona-Beschränkungen eine fortschrittliche Neuausrichtung von Gesellschaft und Wirtschaft einhergehen. Wir sollten gemeinsam die notwendigen Schritte gehen, um dem Klimawandel konsequent entgegenzutreten, um die Energie- und die Verkehrswende weiter voranzutreiben. Uns dafür einsetzen, dass keine veralteten Industrien gerettet werden, sondern Arbeitsplätze in zukunftsweisenden Technologien entstehen. Wir sollten mit einem sozial-ökologischen Umbau auch die kapitalistischen Ursachen von sozialer Ungerechtigkeit beseitigen.
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