Seit einigen Jahren schon ist die Parteienlandschaft in Belgien stark zersplittert. Nach der Wahl vergingen 493 Tage bis zur Regierungsbildung.
Wahlen in Belgien
Gut Ding braucht Weile
Belgien hat dieser Tage zwei Aufregungsthemen, die kaum unterschiedlicher sein könnten, aber doch die Reichweite einer parlamentarischen Demokratie recht gut abbilden. Das eine Thema stammt aus der »Yellow Press«, den Bereichen Adel und Tratsch. Der ehemalige König von Belgien, Albert II., mit vollem Namen Prinz Albert Felix Humbert Theodor Christian Eugen Maria von Sachsen-Coburg, am 6. Juni 1934 auf Schloss Stuyvenberg in Laeken geboren, hatte eine außereheliche Affäre, aus der eine nicht-eheliche Tochter hervorging. Diese Tochter, Delphine Boël, reichte im Januar 2013 eine Vaterschaftsklage ein. Als Motiv nannte sie die Stärkung der gesellschaftlichen Anerkennung für nicht-eheliche Kinder. Im Juli trat Albert II. zu Gunsten seines Sohnes Kronprinz Philippe zurück.
Fünf Jahre später, 2018, ordnete ein Brüsseler Berufungsgericht einen DNA-Test an, das Ergebnis wurde im Januar 2020 öffentlich und bestätigte, Albert ist der biologische Vater von Delphine Boël. Albert von Coburg-Sachsen anerkannte die Vaterschaft anwaltlich. Anfang Oktober hat ein Gericht geurteilt, dass der mittlerweile 52-jährigen Tochter des früheren Königs von Belgien die gleichen Privilegien zustehen wie seinen ehelich geborenen Kindern, König Philippe, Prinz Laurent und Prinzessin Astrid. Der außerehelichen, aber anerkannten Tochter steht ein Prinzessinnen-Titel zu, das gilt auch für ihre beiden noch minderjährigen Kinder, die sich nun alle »von Sachsen-Coburg« nennen dürfen. Die belgische Königsfamilie ist nach einem achtjährigen Rechtsstreit um drei Mitglieder reicher, die Zukunft der Monarchie scheint gesichert.
Eine ungewisse Zukunft hingegen hat die neu gewählte belgische Regierung. Bereits am 26. Mai 2019 wurde die belgische Abgeordnetenkammer neu gewählt. Am gleichen Tag wie der Wahl zum Europäischen Parlament. Ebenso wurden die Parlamente von Flamen, von Wallonien, der Region Brüssel-Hauptstadt und der deutschsprachigen Gemeinschaft neu gewählt. Seit einigen Jahren schon ist die Parteienlandschaft in Belgien stark zersplittert. Auf Grund der parteipolitischen Differenzen, aber auch der kleiner werdenden Parteien und Fraktionen ist die Frage einer neuen Regierungsbildung nach Wahlen mit größeren Hürden und längeren Strecken versehen. Ein Beispiel neuerer Geschichte sind die am 13. Juni 2010 vorgezogenen Neuwahlen. Erst nach 535 Tagen erzielte ein Bündnis aus sechs Parteien eine Grundsatzeinigung über eine Koalitionsregierung am 30. November 2011.
Der Streit zwischen Flamen und Wallonen ist umfassend und wiegt schwer, auch die deutschsprachige Gemeinschaft neigt immer zu einer eigenen Meinung. Dadurch, dass die Niederlande keine äußere Bedrohung der Einheit Belgiens mehr darstellen, wie zu den Zeiten seiner Gründung im Jahr 1831 werden die Gegensätze und die Rückbesinnung auf eigene, historische Identitäten stärker. In der Interimszeit 2010 wurde auf EU-Ebene schon eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit der Frage der Konsequenzen aus einem möglichen Zerfall Belgiens beschäftigte. Die Region Brüssel-Hauptstadt sollte in diesem Planspiel so etwas wie Washington DC werden, ein Verwaltungsdistrikt ohne eigene Regierung.
Im Jahr 2014 dauerte die Regierungsbildung nur vom 25. Mai bis zum 7. Oktober, also keine fünf Monate, Regierungschef wurde Charles Michel, Mitglied im liberalen »Mouvement Réformateur«. Im Dezember 2018 ist die Koalition von Michel wegen des Streits über den UN-Migrationspakt zerbrochen. Weil Michel den Pakt annehmen wollte, aber die Nieuw Vlaamse Allianz (N-VA) strikt dagegen war, ist letztere aus der Regierungskoalition ausgetreten. Nach dem Rücktritt Michels kam eine Minderheitenregierung bis zum Wahltermin am 25. Mai 2019 ins Amt, sie blieb nach dem Neuzusammentritt des Parlaments geschäftsführend. Michel wurde am 2. Juli zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt, er hat das Amt am 1. Dezember angetreten.
Im Ergebnis der Parlamentswahlen vom Mai 2019 wurde die Drift der Landesteile noch stärker sichtbar. Im flämischen Teil blieb die separatistische N-VA mit 25,46% stärkste Kraft, viele Stimmen wanderten noch weiter nach rechts außen, der Vlaams Belang kam auf 16,95%, ein Plus von 12,7%. Die Kommunisten haben 5,63%. Im wallonischen und französischsprachigen Teil gewannen die Sozialisten 26,12% und auch die Kommunisten hatten mit 13,8% ein gutes Ergebnis, ein Plus von 7,9%. Die Region Brüssel-Hauptstadt wählte hingegen mit einem Plus von 11,11% die Grünen zur stärksten Kraft (21,57%), die Sozialisten verloren 6,81% und kommen noch auf 19,98%. Vlaams Belang und N-VA haben zusammen 43 von 150 Mandaten, aber sie konnten keine Regierungsmehrheit zusammenbekommen, dazu fehlen 33 Mandate von anderen Fraktionen.
Seitdem sind mehr als 493 Tage vergangen, also nicht ganz so viele wie die 535 Tage nach der vorgezogenen Wahl von 2010. Aber seit dem Ende der letzten regulären Mehrheitskoalition im Dezember 2018 sind schon 662 Tage vergangen. Auf den letzten Verhandlungsmetern infizierte sich der königliche Beauftragte mit dem Corona-Virus, worauf eine Frist zur Neuwahl am 17. September um 10 Tage verlängert wurde. Der Thronfolger von Albert II, König Philippe hatte insgesamt 37 Audienztermine mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Parteien, bis sich das jetzige Regierungsbündnis zusammengerauft hat.
Es wird »Vivaldi-Koalition« genannt, weil die darin vertretenen Farben am ehesten die Vier-Jahreszeiten repräsentieren. An der Koalition sind die flämischen Christdemokraten (Schwarz), die Sozialdemokraten aus beiden Landesteilen (Rot), die Liberalen (Gelb) und die Grünen (Grün) beteiligt. Nicht dabei sind die flämischen Separatisten der N-VA, die belgienweit bei der Wahl im Mai 2019 mit 16 Prozent stärkste Kraft wurde. Auch der rechtsextreme Vlaams Belang mit 12 Prozent ist nicht beteiligt. Aus diesem Grunde haben Anhänger*innen beider Parteien bei der Regierungsabstimmung demonstriert, nach ihrer Ansicht ist es undemokratisch, die stärkste Fraktion von der Regierung auszuschließen. Am 2. Oktober bekam das Kabinett des Flamen Alexander de Croo (Open VLD) 87 Ja-Stimmen, 54 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen. Mit Sophie Wilmès leitet erstmals seit der Gründung Belgiens eine Frau das Außenministerium.
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