Der neue Artikel von Thomas Nord für den Bundestagsreport der Landesgruppe Brandenburg bietet einen Ausblick auf die bevorstehende Wahl in Ungarn.

Wahlen in Ungarn: Die geschlossene Gesellschaft

Während in Berlin am Samstag die Hochleistungsschlitzmaschine OL 1000 plus bei der SPD beginnt, pro Stunde 20.000 Briefe zu öffnen, in die die Abstimmungen über den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD eingelegt sind, werden in Italien die Wahllokale für die Wahl des Nationalparlaments vorbereitet. In Kärnten die Urnen zur Landtagswahl. Ergebnisse für Abstimmung und Wahlen sollen am Sonntagabend vorliegen. Im Unterschied zu früheren Zeiten, wo Ergebnisse vorher relativ klar und sicher vorhersehbar sind, wird dieses Mal deutlich, dass es sich um offene Prozesse handelt, bei denen das Ergebnis sich erst mit der Auszählung heraus kristallisiert.

Zeitgleich steht der Kampf um die 199 Sitze im ungarischen Parlament (Országgyűlés) in der Schlussphase. Der regierende Ministerpräsident Victor Orban will in fünf Wochen mit einem Wahlsieg den Grundstein für eine weitere Amtszeit legen. Der 1963 geborene Orban fing seine politische Karriere als Vorsitzender der kommunistischen Jugend an. 1988 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Bundes Junger Demokraten. Seit er 1993 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, hat er die Fiatal Demokraták Szövetsége (Fidesz) systematisch von einer liberalen zu einer konservativen Partei umgebaut. Mit den jüngsten politischen Initiativen wird selbst der Rand des Konservativen zielstrebig überschritten.

1998 wurde Orban das erste Mal Premierminister, verlor aber die Wahl 2002. Von 2002 bis 2012 war er stellvertretender Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP). Er trat auf Grund der Kritik an seiner Regierungspolitik nach der erneuten Übernahme der Regierungsgeschäfte von 2010 nicht wieder an. Denn Orban hatte unmittelbar nach Amtsantritt angefangen, dieses Mal nicht die Partei, sondern Ungarn, das einen erheblichen Anteil am Aufbruch von 1989 hatte, von einer liberalen Demokratie zu einer illiberalen Republik umzuwandeln.

Es wurden Beamtenstellen systematisch mit regimetreuen Parteigänger besetzt. Kritische Wissenschaftler*innen aus den Universitäten entfernt. Der öffentliche Rundfunk wurde 2010 unter scharfe staatliche Kontrolle genommen und das vormals unabhängige Justizsystem 2012 reglementiert. Der Präsident des Nationalen Richteramtes kann Einspruch gegen die Ernennung von Richtern erheben und laufende Verfahren nach persönlichem Ermessen an bestimmte Richter verweisen. Die von George Soros gegründete Central European University (CEU) soll geschlossen werden, weil sie seit 1991 offensiv für eine offene und liberale Gesellschaft eintritt. Vor wenigen Tagen wurde ein »Anti-Soros-Gesetz« eingebracht. Orban wendet in seiner langfristigen Umbaustrategie eine klassische Taktik an.

Begleitend zum Abbau liberaler Rechte werden Personen oder Zielgruppen markiert, deren Handeln als Begründung für den Abbau von Grundrechten herangezogen wird. Für Orban und seine Regierung ist dies der jüdische Finanzspekulant George Soros. Er wurde 1930 als György Schwartz in Budapest geboren, ging 1947 nach England und studierte bei Karl Popper die Idee der offenen Gesellschaft und ihrer Feinde. 1956 ging er in die USA und übernahm 1968 einen Investmentfond. 1992 gewann er mit einer Spekulationswette gegen das britische Pfund Sterling in etwa 1 Milliarde US-Dollar. Als Resultat des so genannten »schwarzen Mittwoch« musste das Pfund abgewertet werden und schied aus dem Europäischen Währungssystem EWS aus und wurde niemals Euro-Mitglied.

Im Jahr 2015 ließ die ungarische Regierung auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einen Grenzzaun bauen und schloss so die Balkanroute, über die zu dieser Zeit die meisten Flüchtlinge kamen. Danach hat sie nach britischem Vorbild ein Referendum anberaumt. Die Abstimmungsfrage lautete, »Wollen Sie, dass die EU ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von ausländischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?« Das Referendum scheiterte an der Mindestbeteiligungsquote von 50%. Dennoch hat Orban es als Unterstützung für seine Politik ausgewiesen.

Das darauf folgende Jahr hat Orban George Soros zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt und ihm unterstellt, über eine »Umvolkung« den »Untergang des christlichen Abendlandes« (Oswald Spengler, 1923) zu betreiben und die Nation stürzen zu wollen. Soros hingegen nennt Orban den Führer einer Mafia-Regierung, die sich in vollständig korrupter Art und Weise am Staat bedienen würde. Nach Berichten der ungarischen Zeitung »Pester Lloyd« soll sich die »Familie« von Orban seit 2010 Aufträge in Höhe von 12 Milliarden Euro gesichert haben.

Die aktuelle Initiative läuft über ein im Februar im Parlament eingebrachtes »Anti-Soros-Gesetz«, dass im März beraten und noch vor der Wahl am 8. April verabschiedet werden soll. Aus Orbans Sicht sind die NGOs durch die finanzielle Unterstützung von Soros politische Instrumente. In der am weitesten gehenden verschwörungstheoretisch eingefärbten Befürchtung zielen die finanziellen Unterstützungen darauf ab, eine Farbenrevolution gegen Orbans Regierung vorzubereiten. Sie werden als ein regime-change-Instrument ausgedeutet, durch diese Brille betrachtet, wird das »Stop-Soros-Paket« als notwendige Gegenwehr dargestellt.

Es enthält drei Teilvorhaben, mit denen NGOs, Vereine und Bürgerinitiativen die z.B. durch Beratung und Verbreitung von Infomaterialien zu »illegaler Migration« beitragen, verboten und kriminalisiert werden können, weil sie ein »nationales Sicherheitsrisiko« darstellen. Migrationsfreundliche Organisationen, die materielle Unterstützung aus dem Ausland bekommen, müssen eine 25% Strafsteuer bezahlen, die zur Finanzierung des Grenzzauns eingesetzt werden soll. Außerdem sollen Aufenthaltsverbote in grenznahen Räumen bis zu einer Entfernung von 8 km verhängt werden können. Dazu gehören auch Flughäfen.

Sechs Wochen vor dem Wahltag hat sich Orban bei einer Rede zur Lage der Nation martialisch in Szene gesetzt. Er sagte, die Nationen Europas werden bald aufhören zu existieren und der Westen wird fallen. Er würde es nicht einmal merken, dass er von Muslimen überrannt würde. Ungarn hingegen sei die letzte Bastion Osteuropas gegen die drohende Islamisierung. Dies ist eine weitere Zuspitzung der ungarischen Regierung im seit 2015 schwelenden und manchmal auch brennenden Streit der EU über Länderquoten für die Verteilung und Ansiedlung von Flüchtlingen. Im Wahlkampf benutzt er die Parole »Ungarn zuerst«.

Nach Polen könnte die EU ein Verfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn einleiten, an dessen Ende ein Stimmrechtsentzug auf EU-Ebene stehen könnte. Haushaltskommissar Oettinger hat beiden Ländern im Zusammenhang mit den Verhandlungen zum neuen Mehrjährigen Finanzrahmen ab 2021 mit Geldentzug gedroht. Er unterstützt z.B. die Forderung, Geldzuweisungen der EU an die Aufnahme von Flüchtlingen zu knüpfen. Orban stellt sich dagegen und beruft sich mit seiner Position auf die Unterstützung der Visegrad-Gruppe, Serbiens und Rumäniens, der Regierung in Österreich, aber auch der orbantreuen Christlich Sozialen Union im Freistaat Bayern.

Aus Sicht des langfristigen Plans Orbans zum Umbau der liberalen Demokratie in eine autoritäre Republik sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen nach der Einschränkung der Gewaltenteilung der nächste logische Schritt zur Beschränkung der Zivilgesellschaft, zum Abbau der Demokratie und zur Umwandlung in eine geschlossene Gesellschaft. Aus dem Gegensatz zwischen den Vorstellungen einer geschlossenen und einer offenen Gesellschaft erklärt sich die tiefe politisch-inhaltliche Feindschaft zwischen Soros und Orban.

Alle Kommentatoren gingen bis zum vergangenen Sonntag von einer absoluten Mehrheit Orbans am 8. April aus (Umfragen 52% – 53%). Doch die Nachwahl in einem für Fidesz als sicher geltenden Wahlkreis (Hodmezovasarhely ist Herkunftsort des Büroleiters von Orban, Janos Lazar) brachte eine Überraschung. Ein parteiloser Kandidat hat mit 57% zu 41% gegen den Fidesz-Kandidaten gewonnen. In der Kommunalwahl 2014 hatte Fidesz noch 61% bekommen. Der unabhängige Kandidat war vorher Fidesz-Mitglied und hatte die lokale Unterstützung der unterschiedlichen Parteien von Sozialisten, Demokraten, Ökologen bis zur neofaschistischen Jobbik.

Es muss jedoch in Frage gestellt werden, ob das kommunale Ereignis vom 25. Februar bei der Unterschiedlichkeit der politischen Programme auf die nationale Ebene übertragbar ist. Dennoch dominiert nun der Zweifel an der absoluten Mehrheit den Diskurs in der Schlussphase des Wahlkampfs. Sollte Fidesz auf einen Koalitionspartner angewiesen sein, läge aus Sicht der politischen Programme Jobbik an erster Stelle. Sie steht in Umfragen zwischen 15% und 16%. So ist es nicht verwunderlich, dass Orban ab jetzt verstärkt deren Wähler*innen anspricht, damit sie gleich bei ihm ankreuzen.