Berlin, Paris, Rom, Brüssel, London: Ein Überblick der politischen Lage zur letzten Sitzungswoche dieses Jahr.
In der letzten Sitzungswoche des Jahres im Bundestag hat die politische Dynamik angezogen. Es stand ein Euro-Gipfel, aber auch ein EU-Ratsgipfel auf der Tagesordnung. Neben den offiziellen Themen dürften auch die inoffiziellen Themen auf der Agenda gestanden haben. Die politische Lage in den zentralen Staaten der Europäischen Union. Die Regierungsinstabilität in Berlin. Die politische Krise in Paris. Die innenpolitische Dramaturgie in London. Der Haushaltsstreit zwischen EU und Rom. Der Regierungsbruch in Belgien. Die bevorstehenden Kämpfe für die Neuwahl des Europäischen Parlaments und die ab Ende Mai bevorstehende Neubesetzung der europäischen Institutionen.
Beruhigung in Berlin
Der CDU-Parteitag hat am Freitag in Hamburg Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) mit knapper Mehrheit zur neuen Vorsitzenden gewählt. Das Ergebnis bestätigt die seit Monaten diskutierte Spaltung des konservativen Bürgertums in Deutschland zwischen den Ansprüchen nach Modernisierung und Beharrung bzw. Wiedergewinnung des Konservatismus alter Provenienz. Angela Merkel ist, ihrer Parteiverantwortung entledigt, am Montag nur noch mit dem Amt der Kanzlerin nach Marrakesch geflogen, um der Verabschiedung des UN-Migrationspaktes beizuwohnen und dort eine Rede zu halten. Sie hat damit ein klares politisches Statement in der Kontinuität ihrer Entscheidung von 2015 gesetzt. Die nun auftauchende Frage lautet, ob sie mit dem Rückzug vom Parteivorsitz und der Erklärung, nicht wieder zu kandidieren, bis 2021 im Kanzleramt verbleibt.
Die Partei muss ihren Streit nun ohne die Kanzlerin austragen. Insbesondere der neue Generalsekretär Paul Ziemiak hat die Kritik auf sich gezogen. Es wurde vermutet, dass auch Friedrich Merz mit ihm Gespräche geführt hatte, aber AKK den besseren Deal und die bessere Zukunftsperspektive angeboten hat. Lediglich Jens Spahn hat dementiert, dass er Absprachen mit Annegret Kramp-Karrenbauer getroffen hätte. Der Spalt zwischen moderner und alter Union ist größer und tiefer geworden. Der Nimbus von Wolfgang Schäuble ist auf reale Größe geschrumpft.
Von der Bühne in Marrakesch ging es für Merkel zurück nach Berlin für eine parlamentarische Fragestunde vor dem Eurogipfel und den EU-Ratstreffen am 13./14. Dezember. Die Bankenunion, der Europäische Stabilitätsmechanismus und seine Umwandlung in einen Europäischen Währungsfond standen auf der einen Tagesordnung. Der Mehrjährige Finanzrahmen, der uneingeschränkt funktionierende EU-Binnenmarkt, der Stand der Umsetzung des Migrationskonzeptes vom Juni-Gipfel, die EU-Außenpolitik vor allem in den Beziehungen mit den arabischen Staaten und die Bekämpfung von Desinformation standen auf der anderen Tagesordnung. Hinter den Kulissen flimmerten die drahtlosen Netzwerke, inoffiziell wurde über die heikle Lage der Europäischen Union gesprochen.
Zuspitzung in Paris
Am Samstag waren die Kameras erneut auf Paris und Frankreich gerichtet. Nachdem Emmanuel Macron das erste Mal seit seiner Wahl im Juli 2017 ein Reformvorhaben zurückgezogen hat, ist er in der Defensive. Seine Beliebtheit ist noch einmal von 26% auf 23% gefallen. Auch die Zustimmung für seine 2016 gegründete Partei En Marche (EM) sinkt. Sie ist in der Fläche noch nicht verankert und es wird ein Absturz von EM bei der EP-Wahl prognostiziert. Nach der Schleifung von Arbeitnehmerstandards, der auch Gewerkschaften zugestimmt hatten und der Abschaffung der Vermögenssteuer wollte Macron zum Ausgleich im Staatshaushalt eine Kraftstoffsteuer einführen. Nur in etwa ein Viertel der erhobenen Summe sollte für eine Energiewende und eine Stärkung der Nachhaltigkeit eingesetzt werden.
Die Erhöhung auf Diesel und Benzin hätte gerade bei den Niedriglöhnern und Pendlern zu einer starken Belastung geführt und so entstand die Bewegung der »Gilets Jaunes«, der Gelbwesten, die lautstark und zum Teil auch gewalttätig protestieren. Nach vier Wochenenden, an denen sich das Volk gegen die Politik von Oben erhoben hat, macht die Rede von einer Krise der V. Republik die Runde. Le Pen vom Ressemblement Nationale und Mélenchon von La France Insoumise haben Neuwahlen gefordert. Es steht auch die Forderung der Umstellung des Wahlsystems von einem Mehrheits- zu einem Verhältniswahlrecht im Raum.
Am Montagabend stieg Jupiter vom Olymp auf die Erde herab, wie es in Frankreich heißt. Der Präsident der Reichen sprach um 20.00 Uhr erstmals direkt im Fernsehen und bezog Stellung in der Auseinandersetzung. Er setzt angesichts der zuspitzenden Politisierung des Konflikts auf eine monetäre Befriedungsstrategie. Aber seit der Ankündigung der sozialen Maßnahmen in Höhe von 10 Mrd. Euro jährlich steht Macron bei Teilen der EU-Mitgliedstaaten in der Kritik, die Haushaltsdisziplin aufzuweichen und gegen den Stabilitätspakt zu verstoßen. Die EU-Kommission hatte mehrfach nur gegen das Versprechen der Kurskorrektur seitens Paris auf ein Defizitverfahren verzichtet. Macron wird davor gewarnt, den Weg von Francois Hollande oder Matteo Renzi zu gehen.
Blockade in Rom
Der Vorwurf an den einstigen Star der Demokraten in Italien lautet, mit seiner verfehlten Politik der jetzigen Regierung von Fünf Sterne (5MS) und Lega den Weg bereitet zu haben. Mit einer zugespitzten und konfrontativen Haushaltspolitik setzt Rom nun Brüssel unter Druck und zeigt sich nach innen in einer Dramaturgie von David gegen Goliath. In der Außendarstellung dominiert Salvini von der Lega gegenüber Di Maio von den Sternen. Im Wahlergebnis von März 2018 war 5MS mit einem Plus von über 7% stärkste Kraft geworden (32,7%) und die erstmals italienweit angetretene Lega hat ein Plus von 13,25% bekommen (17,3%). In den jetzigen Umfragen hat Fünf Sterne noch 25%, Lega aber über 32%. Bei einem entsprechenden Ergebnis in den EP-Wahlen könnten die rechtsextreme Lega und Matteo Salvini versucht sein, mit Neuwahlen den Regierungssitz zu übernehmen und dadurch direkt in den Europäischen Rat einzuziehen.
Für Frankreich muss sich nun zeigen, ob die Strategie der monetären Befriedung von Macron greift oder ob die politischen Forderungen nach Reform der Republik zum Beispiel durch Umstellung des Wahlrechts und Stärkung des Parlaments und der Direkten Demokratie aufrechterhalten werden. Ist es ein sozialer oder ein politischer Protest? Für Samstag wurde zu einer neuen Protestrunde aufgerufen, zu einem 5. Akt. In dieser innenpolitisch hoch aufgeladenen Situation wurde am Abend des 11. Dezember auf einem Weihnachtsmarkt in Straßburg, nicht weit entfernt vom Sitz des Europäischen Parlaments ein Anschlag verübt. Drei Tote und 12 Verletzte sind zu beklagen.
Die Sicherheitsstufe wurde in Frankreich auf das höchste Niveau gesetzt. Paris ist wieder an die Schrecken des Jahres 2015 erinnert und steht erneut in der Auseinandersetzung mit dem Terror. Gewissermaßen waren die innergesellschaftlichen Proteste der Gelbwesten und die Auseinandersetzungen um die Sozialpolitik auch eine Rückkehr zur französischen Normalität vergangener Jahrzehnte, die nun brutal in die Gegenwart zurückgerufen wurde. Es wird gefordert, angesichts dieser Bedrohung die Polizei und Sicherheitskräfte nicht zu überfordern und die sozial motivierten Proteste einzustellen. Die aktuelle Diskussion dreht sich um die Frage der Abwägung von öffentlicher Sicherheit und politisch legitimen Protest.
Regierungsbruch in Belgien
Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Migrationspakts ist am zurückliegenden Wochenende die flämische Nationalistenpartei Nieuw Flamse Allianti (N-VA) aus der belgischen Regierung ausgetreten. Sie strebt eine Unabhängigkeit Flanderns von Belgien an. Auch der belgische Ministerpräsident ist aus innenpolitischen Gründen nach Marrakesch geflogen. Die bisherigen Staatssekretäre übernehmen die Ministerposten. Der Rückzug von N-VA ist ein taktisches Manöver zur Intensivierung des Wahlkampfes. In Belgien werden regulär zeitgleich zur EP-Wahl das Nationalparlament und regionale Vertretungen neu gewählt. Man darf an dieser Stelle noch einmal an das Engagement von Steven Bannon zur Stärkung der rechtsextremen Kräfte in der EP-Wahl erinnern und dem angekündigten Versuch der Bildung einer rechtsextremen Superfraktion im EP nach dem Mai 2019.
Chaos in London
Nach der Zustimmung der EU zum Austrittsvertrag des Vereinigten Königreichs liegt der Ball in Downingstreet 10, dem Sitz der Premierministerin. Sie braucht eine Zustimmung des Unterhauses zum vorliegenden Vertrag bis spätestens zum 21. Januar 2019, sonst kommt es zu einem harten Brexit ohne vertragliche Regelungen zwischen EU und Großbritannien. Auch wenn der EUGH geklärt hat, dass London den Vertrag einseitig zurücknehmen könnte, wird dies in der jetzigen Lage nicht passieren, ohne eine weitere massive Zunahme der innenpolitischen Spannungen im VK in Kauf zu nehmen. Am 29. März wird das Vereinigte Königreich aus der EU austreten. Bis dahin bleibt der Weg holperig und unbefestigt.
Nach dem Rückzug der für den 11. Dezember angesetzten Abstimmung über den Brexit-Vertrag zwischen EU und dem Vereinigten Königreich im britischen Unterhaus sind die fehlenden Stimmen für einen Abwahlantrag von Premierministerin Theresa May als Parteivorsitzende der Torys zusammengekommen. May hat wie Merkel erklärt, bei der nächsten regulären Wahl (2022) nicht wieder als Premierministerin kandidieren zu wollen. Sie hat sich erfolgreich gegen das Votum gestemmt und die Mehrheit (200 von 315 Mandaten) in ihrer Fraktion bekommen. Dennoch zeigt das Ergebnis wie im bürgerlich-konservativen Lager in Deutschland eine tiefe und weitgehende Spaltung, diese ist in der gesamten Gesellschaft präsent. Es muss sich nun zeigen, ob May mit dem Vertrauensvotum im Rücken die Zustimmung des Parlaments kriegt.
Das Zentrum wackelt
In drei der vier größten Volkswirtschaften der EU sind die Regierungen und die nationalen politischen Systeme am Rande ihrer Auslastung bzw. Belastungsfähigkeit angekommen mit teilweise drastisch ausgemalten Konsequenzen und Verwerfungen für die gesamte Wirtschaft im Euro-Raum und der EU. Gleiches gilt am Ende ihrer Amtszeit und gut fünf Monate vor der Neuwahl des Europäischen Parlaments im Mai 2019 für die EU-Institutionen. Hierdurch erhöht sich die Möglichkeit, dass es auf einer Ebene zu einer sachlichen Fehlentscheidung kommt bzw. zu einem technischen Fehler oder einer Fehlreaktion wegen menschlicher Überforderung.
Es entsteht aber auch das Risiko, dass die Einzelkrisen in eine sich wechselseitig verstärkende Resonanz eintreten oder in der Vorwahlkampfstimmung ineinanderfließen und zu einer weiteren Verschiebung der politisch parlamentarisch repräsentierten Kräfteverhältnisse beitragen. Insbesondere die Spaltung des konservativen Bürgertums in eine national beharrende und eine unionistisch und global orientierte Richtung weist auf eine Spaltung der jeweiligen gesellschaftlichen Zentren.
Die deutsche Regierung erscheint mit der Beruhigung durch den Rückzug Merkels von der Parteispitze als politisch stabilisiert, aber auch hierzulande ist die Entwicklung unklar. Doch je größer die Unsicherheiten in den EU-Nachbarländern Deutschlands werden, desto größer wird in Deutschland der Wunsch nach Stabilität und Kontinuität. Dies wird ein zusätzliches Klammerargument für die Fortführung der Großen Koalition. Die Debatte über vorgezogene Neuwahlen dürfte dennoch im Jahr 2019 wegen der zu erwartenden Ergebnisse an den Wahlabenden in aller Regelmäßigkeit wieder aufflammen. Es wäre aus linker Sicht ein Zeichen demokratischer Souveränität, die Wahlperiode regulär zu durchlaufen und mit den jetzt schon begonnenen und sich abzeichnenden Rückzügen klare politische Linien für die kommenden Wahlkämpfe aufzustellen.
Bildquelle/image source: https://www.flickr.com/photos/ruthanddave/18681482560/
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