Die Krisen seit den Lissaboner Verträgen haben das heutige Europa erst möglich gemacht. Nur eine starke LINKE kann verhindern, dass die Krisenkosten nach der Wahl auf die Schwächsten abgewälzt werden.

Die 20. Wahlperiode

Krise und Fortschritt

Als der Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 in Kraft trat, war es der Auftakt in ein fulminantes Jahrzehnt. Ein halbes Jahr später folgte der erste Griechenland-bail-out, die Währungskrise fand ihren dramaturgischen Höhepunkt in der Versorgung Zyperns mit Bargeld, das in Containern per Luft eingeflogen und von schwer bewaffnetem Militär gesichert ausgereicht wurde. Lasse eine Krise niemals ungenutzt vorbeiziehen, um Ziele zu erreichen, die Du in »normalen« Zeiten niemals erreichen könntest. Dieses Sprichwort wurde in der Krisenbewältigung oft bemüht.

Neue politische Instrumente und nicht demokratisch legitimierte Strukturen wurden gebildet wie z.B. die EU-Troika, die die Umsetzung der neoliberalen Sparauflagen durchdrückte und überwachte. Der Fiskalpakt wurde aufgesetzt und gegen Widerstand beschlossen. Finanzökonomische Strukturen wie die Bankenunion wurden geschmiedet und bestehende, wie die Europäische Zentralbank (EZB), haben ihre Befugnisse teilweise im Streit sehr weit ausgedehnt. Manche sagen überdehnt. Die heutigen Niedrigzinsen sind für die Staatshaushalte der Euro-Zone eine willkommene Entlastung vom Schuldendienst. Aber kein Wunder, das ein solches Vorgehen auch politischen Protest zur Folge hat, wie ein Erstarken nationalprotektionistischer Kräfte unterschiedlichster Couleur. Eine Folge in Deutschland ist zum Beispiel die Spaltung des Konservatismus.

Mit dem Programm »Next Generation EU« (NGEU), einem EU-Wiederaufbaufonds für die wirtschaftlichen Schäden, die durch die Beschlüsse zur Bekämpfung der Corona-Pandemie entstanden sind, hat die Kommission nach langem Streit unter den Mitgliedsstaaten das erste Mal die Kompetenz zur eigenständigen Schuldenaufnahme erhalten. Dieser Beschluss wurde möglich durch den Positionswechsel der Bundesregierung von den »Sparsamen Fünf« in das Lager derjenigen, die die EU weiter ermächtigen wollen. Diese Entscheidung wurde »Hamilton-Moment« genannt, um damit auszudrücken, dass ein entscheidender Schritt hin zu einer weiteren Unionisierung vollzogen wäre. Der Namensgeber Alexander Hamilton war einer der Gründerväter der US-Verfassung und hat als deren erster Finanzmister 1790 die Einzelstaaten entlastet, indem ihre Schulden zu Bundesschulden wurden.

Mit den Anleiheaufkaufprogrammen (wie z.B. Pandemic Emergency Purchase Programme; PEPP oder Asset Purchase Programme; APP) hat die EZB nun schon ungefähr 3 Billionen Euro Schuldscheine von Mitgliedsstaaten der Euro-Zone im eigenen Schrank. Ein überproportional hoher Stapel stammt vom italienischen Staat, der mit über 200 Milliarden Euro auch den größten Anteil vom NGEU bekommt. Obwohl Italien über seine Notenbank Mitglied im EZB-Direktorium ist, entsteht eine Situation, in der das Schuldner-Gläubiger-Verhältnis schnell eine politische Dimension annehmen kann, mit der das Ungleichgewicht zwischen EZB und nationalstaatlicher Souveränität ihre Machtasymmetrie sichtbar wird.

Auch darin kann man die »kreative« Etablierung neuer Realitäten im Schatten einer Krise erkennen, denn im Wortlaut des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist der EU-Kommission eine Kreditfinanzierung nach Artikel 310 und 311 (AEUV) schlicht und einfach verboten. Ein gleiches Vorgehen kann man in der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) in Höhe von ca. 8 Milliarden Euro erkennen, mit dem die Militarisierung der EU auf eine neue Stufe gestellt werden soll. DIE LINKE hat deswegen nach der Ablehnung ihres Antrags im Parlament Mitte Juni eine Organklage in Karlsruhe eingereicht. Nebenbei bemerkt wären beide Schritte, Ermächtigung der EU-Kommission zur eigenständigen Kreditaufnahme und Einrichtung des EVF mit einem in der EU verbliebenen United Kingdom wohl kaum möglich gewesen.

Im Laufe des Jahrzehnts sind in fast allen Mitgliedsstaaten der EU die Parteiensysteme teils in sehr starke Bewegung geraten. Nach der ersten Runde der Regional- und Departementwahlen in Frankreich deutet sich ein erneutes Umschwenken auf die Partei der Republikaner an, die den Durchmarsch des Rassemblement National in den Elysée-Palst nächstes Jahr im April verhindern kann, nachdem Macrons En Marche in der ersten Runde nur auf dem fünften Platz gelandet ist. Auch für die Bundestagswahl im September deuten sich weitreichende Verschiebungen der parteipolitischen Kräfteverhältnisse an. Die danach anstehenden Sondierungs- und Koalitionsgespräche werden eher komplizierter werden. Grün-Rot-Rot ist eine nicht ausgeschlossene Möglichkeit.

Wenn es zeitlich so läuft wie 2017, käme die neu gewählte Bundesregierung erst im März 2022 ins Amt. Das wäre nach der Neuwahl einer Bundespräsidentin oder eines Bundespräsidenten im Februar. Doch zunächst stehen ein intensiver Wahlkampf und ein heißer Sommer bevor, an dessen Ende durchaus viele Überraschungen möglich sind. Durch Forderungen wie »10 Tage Urlaubsverzicht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«, »Erhöhung des Renteneintrittsalters auf bis zu 70 Jahre« oder Einrichtung einer »Aktienfondrente« zeichnet sich ab, auch hier wird versucht, Sozialkürzungen im Schatten einer Krise durchzusetzen. Nur eine starke Linke im Bundestag kann verhindern, dass die soziale Frage nach dem 26. September in große Bedrängnis kommt.