In der Politik findet selten jemand den richtigen Zeitpunkt, um zu gehen. Bei allen Kontroversen, die es über den scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck gibt, wird es bei seiner Entscheidung, nicht für eine zweite Amtszeit anzutreten, einen sehr großen Konsens geben. Seine Entscheidung ist begründet und nachvollziehbar.

Er hat sie an einem Zeitpunkt getroffen, der der bundesrepublikanischen Gesellschaft einen genügend langen Diskussionszeitraum über die Nachfolge eröffnet. Die nächste Bundesversammlung ist für den 12. Februar 2017 angesetzt. Sie findet nach den September-Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin und vor den Frühjahr- Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen statt.

In den Jahren von Gaucks Amtszeit seit 2012 hat sich die gesellschaftspolitische Lage weitgehend verändert. Der arabische Frühling ist abgestürzt. Kriege in der EU-Nachbarschaft haben Migration ausgelöst und in Deutschland zu einer Polarisierung geführt. Die nationalistischen Wahltendenzen in den umliegenden EU-Mitgliedssaaten drücken zunehmende Ablehnung von EU und Euro aus, die auch in Deutschland spürbar größer wird.

Die gesellschaftliche Situation spiegelt immer auch eine Auseinandersetzung um das kulturelle und politische Selbstverständnis wieder. Zu Beginn seiner Amtszeit war auch die „ostdeutsche Herkunft“ Gegenstand der kritischen Debatte und die Frage, ob die beiden höchsten Ämter in der Republik wirklich durch „Ostdeutsche“ besetzt werden sollen. Spätestens heute wirkt dieser Teil verstaubt, antiquiert und löst Irritation oder Schmunzeln aus. Zurzeit werden eher Gaucks Positionen zu Militär oder seine Neigung zur Eitelkeit debattiert.

Die nächste Bundesversammlung findet in einer EU-politisch aufgeladenen Zeit statt. Im bundesdeutschen Kontext befinden wir uns in der zweiten großen Koalition aus CDU/CSU und SPD seit 2005. Die politische Handlungsmaxime der Bundeskanzlerin besteht darin, Situationen lange zu beobachten und ihre Entscheidungen als „alternativlos“ darzustellen. Unter beidem leidet die politische Kultur der parlamentarischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das parlamentarische Ringen zwischen Regierung und Opposition wird marginalisiert. Allmähliche Sättigung und Abwendung sind die Folgen.

Im EU-Kontext sehen wir in vielen Mitgliedsländern wahlpolitische Reaktionen wie in Ungarn, Polen, Österreich und Frankreich. Im März 2017 wird in den Niederlanden das nationale Parlament neu gewählt. Auch dort deutet sich ein ähnlicher Trend an. Im 19. Jahrhundert mag das im Kampf gegen die Herrschaft der Monarchie auch teilweise fortschrittlich gewesen sein. Heute ist es paternalistisch und nationalreaktionär. Der wachsende Zuspruch hierzu sollte uns hellwach machen.

Ein Seitenblick auf die politische Dramaturgie um die Neubesetzung des Präsidentenamtes in Österreich im Mai des Jahres und die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Frankreich im Mai 2017 macht die politische, aber auch kulturelle Dimension der bevorstehenden Wahlkampfauseinandersetzung bis zur Bundestagswahl im September 2017 deutlich. Die Bundesversammlung wird die Ouvertüre in die Schlussphase des Wahlkampfs und DIE LINKE entscheidet in den kommenden Monaten, mit welcher Musik sie in die Arena einzieht.

Der Rückzug des Bundespräsidenten eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit, sich mit den Fragen der politischen Situation inhaltlich und personell intensiv
zu beschäftigen. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion hat im vergangenen Monat das Trennungsjahr der jetzigen Regierungskoalition verkündet, er will sie 2017 nicht erneuern. Die Frage nach realen Alternativen zur jetzigen Koalition wird ein zentrales Entscheidungsfeld in der Bundesversammlung und den weiteren Monaten bis in den Herbst.

Wollen wir in Deutschland auf Bundesebene Wahlergebnisse für die AfD wie für die Freiheitliche Partei Österreichs oder den Front National? Hat die gesellschaftliche und politisch organisierte Linke bis hin zur gesellschaftlichen Mitte in Deutschland die Kraft und den Willen, etwas anderes zu organisieren als einen alarmistischen Abwehrkampf wie im zweiten Wahlgang um die Hofburg oder die Departements in Frankreich?

Diese Fragen werden in den kommenden Monaten auch dann beantwortet, wenn die Linke in den Streits und Differenzen von gestern verharrt. Wenn man politisch selbstreferentiell ist, kann man in den Gegenwartsfragen schnell politisch irrelevant werden und dementsprechende Bewertungen bekommen. Besser sind politische Antworten, die in der kommenden Wahlperiode eine reale Aussicht auf eine sozial und ökologisch gerechte Koalitionsalternative bieten.