Der Reigen der wahlpolitischen Ereignisse mit EU-weiter Bedeutung im Jahr 2016 neigt sich mit dem kommenden Sonntag dem Ende zu. Am 4. Dezember wird die wegen unbrauchbarer Briefumschläge für die Wahlkarten verschobene gerichtlich verfügte Wiederholung der Stichwahl zur Wahl des österreichischen Bundespräsidenten vom 22. Mai dieses Jahres durchgeführt.

Van der Bellen oder Hofer, unabhängiger Grüner oder freiheitlich Blauer? Wer wird Präsident in der Wiener Hofburg? Die Umfragewerte liegen seit Wochen Kopf an Kopf. Eine verlässliche Prognose ist hieraus kaum mehr abzuleiten. Und so bleibt nach dem ganzen Hin und Her der letzten Monate schlicht und einfach kaum mehr übrig, als das vorläufige amtliche Endergebnis abzuwarten. Sicher ist lediglich, dass die bisher etablierten Parteien ÖVP und SPÖ sich anhand der eingetretenen Lage weiter destabilisieren und von innen zerlegen, während es die rechtsextreme FPÖ geschafft hat, sich als alleinige Alternative zu allen anderen Parteien darzustellen.

In Italien wird am gleichen Tag mit einem Referendum über die weitreichendste Verfassungsänderung seit dem Ende des zweiten Weltkriegs abgestimmt. Es ist in seiner Substanz so umstritten, dass sich der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi gezwungen sah, seine politische Zukunft mit der Zustimmung zum Referendum zu verbinden. Nach dem positiven Votum im Brexit-Referendum allerdings gilt der Ausgang nicht mehr als sicher. Wandert Renzi auf den Spuren Camerons? Für diesen Fall wird schon kräftig über die Wiederkehr der Euro-Krise und einen möglichen »Ital-exit« spekuliert.

Auf den Ausbruch der Euro-Krise in Griechenland wurde im Mai 2010 mit einer »bail-out« Politik reagiert. Nach den Rettungsschirmen für Portugal, Irland, Zypern und Spanien hat sie beim Wackeln des italienischen Bankensektors ihren Wendepunkt erlebt. Nun heißt es nicht mehr: »to big to fail«, sondern: »to big to bail«. Man erreicht mit den Rettungsschirmen für Banken und Bonzen bei der drittgrößten Volkswirtschaft Italien eine Größenordnung, die von der EU-Staatengemeinschaft nicht mehr zu stemmen ist.

Der Sozialdemokrat Matteo Renzi setzte sich 2010 auf der Höhe der damaligen Krise gegen Silvio Berlusconi durch. Seit diesem Erfolg ruhen überhöhte Anforderungen und Erwartungen seitens Italiens, aber auch der EU, auf dem neuen Ministerpräsidenten, denen er kaum gerecht werden kann. Mit der aufgelegten Verfassungsreform hat er den Weg zu einem »regierbaren« und im Sinne der neoliberalen Agenda der EU »reformierbaren« Italien eingeschlagen.

Bisher muss in Rom jeder Gesetzentwurf in beiden Parlamente abgestimmt werden. Deshalb soll die Macht des Senats mit der Reform radikal beschnitten werden, das Zwei-Kammer-System beendet. Auch das Wahlrecht soll geändert werden. Die Partei, die in Wahlen auf mehr als 40 Prozent kommt, soll demnach künftig 55 Prozent der Sitze erhalten. Dadurch sollen nicht demokratischere, sondern stabilere Regierungen ermöglicht werden.

Dagegen machen viele Parteien, auch Teile der Partei von Renzi selber Front. Die zahlenmäßig größten darunter sind die faschistische Lega Nord, die Berlusconi Partei Forza Italia und die Fünf-Sterne Bewegung des Komikers Beppe Grillo. Je nach Perspektive wird der Ministerpräsident mal als Marionette Brüssels, mal als Handpuppe von Merkel dargestellt. Die Angriffe richten sich nicht mehr gegen die Verfassungsreform, sondern gegen Renzi und die EU. Dem Populismus sind durch die Transformation einer Sach- zu einer Machtfrage Tür und Tor geöffnet. Ausgang: Ungewiss!

Die Börsen können mit dieser Unsicherheit kaum umgehen, sie zittern in diesem Stadium der politischen Empörung vor den Resultaten an den Wahlurnen. Die finanzgetriebene Seite des Marktes macht deshalb mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften auf die drohende Gefahr aufmerksam und skizziert einmal mehr den Untergang von EU und Euro. Die Befürworter sagen, nach dem Wahlsieg von Trump sind die Börsen doch auch gestiegen. In Deutschland sehen »Experten« wieder einmal einerseits das Ende vom Euro nahen, andererseits im Leitindex DAX lediglich die Marke von 10.000 Punkten gefährdet.

Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat die Verachtung des politischen Salons, des Establishments eine neue Stufe erklommen. Es reicht als politisch-emotionales Motiv schlicht und einfach, es »Denen da Oben« mal zeigen zu wollen. Da wird dann auch nicht mehr über die Folgen des eigenen politischen Handelns nachgedacht. Ein Rücktritt von Renzi hätte wohl unausweichlich Neuwahlen mit erheblichen Bewegungen im Parteiengefüge zur Folge. Aber dies wäre kein »Ital-exit«, also ein Ausscheiden von Italien aus der EU und dem Euro, sondern lediglich ein »Renzit«.

In Italien ist die Situation so umkämpft wie in Österreich, nur noch das vorläufige amtliche Endergebnis kann die Kaffeesatzleserei beenden. Dies kann in Österreich, in der die traditionellen politischen Kräfte von Konservatismus und Sozialdemokratie irrelevant geworden sind und der Gegensatz Globalisierung versus Renationalisierung zur Kraftprobe aufgerufen ist, durch das penible Auszählen der Wahlkarten bis Dienstag dauern. Auch der leiseste erhobene Verdacht der Manipulation kann erneut einen Sturm hervorbringen. Einen Sturm der Empörung bei den konkurrierenden innenpolitischen Kräften und eine tiefgreifende und langwirkende Erschütterung Österreichs.

In genau diesem Wartemoment zeigt sich ein wesentliches Konstruktionsdefizit bei der Einführung des Euros. Eine Währungs- und Wirtschaftsunion, in der Mitgliedsstaaten zunehmend darauf angewiesen sind, abzuwarten, ob Wahlergebnisse bei den Anderen bis runter zu Regionalwahlen »gerade noch einmal gut gehen«, ist einer Belastungshöhe ausgesetzt, die deren Nutzen auf Dauer übersteigt.