Anfang des Jahrtausends verstießen Deutschland und Frankreich mit ihren Haushaltspolitiken gegen die vereinbarten Maastricht-Kriterien und haben ihr ganzes politisches Gewicht dazu eingesetzt, dass ein Defizitverfahren der Europäischen Kommission gegen die deutsche und die französische Regierung nicht in Gang gesetzt wurde. Dieser Regelbruch gilt heute entlang der christlichen Lehre als der exemplarische „Sündenfall“, auf den sich auch die anderen Mitgliedsstaaten beim Verstoß gegen den Maastricht-Stabilitätspakt berufen haben. Besonders die europäischen Südländer, die in Folge der Finanz- und Bankenkrise von 2008 und den übernommenen staatlichen Haftungen an den Rand der Insolvenz gerieten. Die Euro-Rettungsschirme wurden ab 2010 für Griechenland, Portugal, Irland, Zypern und Spanien aufgespannt, EFSF und ESM begründet. Damit wurde ein Konstruktionsfehler der Eurozone abgepuffert, aber nicht behoben: die fehlende politische Union.
Auf der anderen Seite der Maßnahmen stand z. B. die Verabschiedung des Europäischen Semesters, mit ihm sollte die wirtschafts- und haushaltspolitische Planung der Mitgliedsstaaten auf EU-Ebene auf Einhaltung der Maastricht-Kriterien überprüft werden. Im praktischen reichen die Mitgliedsstaaten ihre Haushaltsentwürfe und Wirtschaftsreformprogramme bei der Kommission ein. Als Ergebnis einer Prüfung spricht diese länderspezifische Empfehlungen aus, wie die einzelnen Mitgliedstaaten Wachstum und Beschäftigung fördern können, ohne die öffentlichen Finanzierungsspielräume mit Schuldenneuaufnahmen über die Maastricht-Kriterien hinaus zu erweitern. Besondere Schwierigkeiten sieht die neue Kommission im französischen Haushaltsdefizit, in den kommenden Jahren wird eine Steigerung von 4,4 Prozent im Jahr 2014 auf 4,7 Prozent in 2016 erwartet. Dabei ist doch eigentlich 3 Prozent das gemeinsam verabredete Ziel, die Kommission steht vor der Entscheidung, wie sie damit umgeht. In dieser Situation wird auch die politische Differenz zwischen Deutschland und Frankreich einmal mehr in der Tiefe sichtbar, denn beide beharren auf unterschiedlichen Überzeugungen.
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat derzeit einen rhetorischen Fetisch: Die schwarze Null. Dabei ist eine Null eine Null. Eine schwarze Null wäre aus der Sicht eines Kabarettisten vielleicht ein politisch-konservativer Nichtskönner. Als ein solcher möchte Schäuble, der bereits den Einheitsvertrag mitverhandelt hat, sicher nicht im Buche stehen. Der eiserne Hans Eichel und auch Peer Steinbrück haben sich bereits die Zähne an der Realisierung der Idee eines ausgeglichenen Haushalts ausgebissen, denn in Deutschland heißt die Devise: „Jetzt ist nicht die Zeit für einen großen Schluck aus der Pulle.“ Die Franzosen halten sich in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen eher an ein russisches Sprichwort: „Der Rubel muss rollen.“ Ein bisschen mehr öffentliches Defizit zur Ankurbelung der strauchelnden Wirtschaft, wo ist das Problem? Die deutsch-französische Freundschaft als Motor der europäischen Integration hält zwar den gleichen Strang in der Hand, aber sie zieht in zwei unterschiedliche Richtungen: Austerität versus Investition und Wachstum. Diese Differenz entwickelt sich derzeit mehr und mehr zur nächsten großen Belastungsprobe für die Währungsunion, die immer ein politisch begründetes Integrationsprojekt war und kein ökonomisch fundiertes.
Die Regierung Merkel steht unangefochten in der dritten Legislatur, Präsident Hollande ist in der Mitte seiner ersten Wahlperiode stark angeschlagen, weil er sich einerseits der Forderung nach Neoliberalisierung ein bisschen verweigert, ihr aber andererseits auch ein bisschen nachgibt. Der Versuch eines Mittelwegs wird als beständiges Schwanken empfunden und von beiden Seiten (Sozialisten und Kapitalisten) als politische Schwäche bewertet. Rufe nach vorzeitiger Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahl werden laut, obwohl die gängige Kommentierung Francois Hollande diesen Schritt nicht zutraut. Auch weil er in den eigenen Reihen so in der Kritik steht, dass seine Wiederaufstellung unsicher wäre. Für die reguläre Wahl 2016 laufen sich bereits Marie le Pen und der 2012 abgewählte Nikolas Sarkozy warm, beide hätten Chancen, den Elysée-Palast zu erobern. Für eine Überraschung sorgte der Vorschlag aus Frankreich, 50 Milliarden einzusparen, wenn Deutschland 50 Milliarden Euro investiert. „Das wäre ein gutes Gleichgewicht“, sagte der französische Finanzminister. Der Vorschlag wurde von CDU-Seite harsch zurückgewiesen und der französischen Regierung die Hartz-IV-Reformen erneut als schmackhaft angepriesen.
Als Schützenhilfe zum Gallois-Report von November 2012 soll nun ein deutsch-französisches Wirtschaftsgutachten treten, das Mitte November vorgestellt werden soll. Hier wird derzeit über verschiedene Kompromisslinien im französischen Arbeits- und Sozialrecht spekuliert. Jenseits der Spekulationen zeichnen sich aber zwei Linien ab: Wenn das französische Sozialstaats- und Arbeitsmodell verteidigt werden kann, wird die wirtschaftliche Asymmetrie zwischen Deutschland und Frankreich größer, weil Frankreich beharrlich gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen würde. Der Pakt wäre nicht nur aufgeweicht, er käme als Ganzes in Gefahr. Wenn das französische Sozialstaatsmodell geschliffen wird, wird hingegen der Zulauf zu le Pen größer und damit die politische Asymmetrie. Sie fordert wie die AfD den Ausstieg aus dem Euro, den sie „Euromark“ nennt, um die deutsche Wirtschaftshegemonie hervorzuheben. Während die AfD derzeit bei 8% in bundesweiten Umfragen liegt, steht der Front National bei 30%. Le Pen will als Präsidentin zusammen mit den europäischen Partnern die Rückkehr zu den nationalen Währungen vorbereiten und den Euro im Verhältnis 1:1 in neue Franc umtauschen. Zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit will sie die neue Währung gezielt um 25% abwerten. Sie hält die Abwertung für sozialpolitisch verträglicher als den neoliberal fundierten und eurokapitalistisch organisierten Sozialabbau. Möglicherweise sollte der Plan der schwarzen Null noch einmal aus europäischer Perspektive überdacht werden, denn der Rückkehr zur Nationalwährung wird die Rückkehr zum paternalen Nationalstaat folgen.
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