Vielleicht hat es etwas mit den bevorstehenden Parteitagen von FDP und CDU zu tun, dass die Regierungskoalition gerade reich ziselierte Stilblüten an die Wand malt. Vielleicht ist es aber auch nur das grundlegend menschliche Bedürfnis in einer dynamisch eskalierenden Krise der Europäischen Union möglichst häufig das Wort Stabilität zu benutzen. Diesen Eindruck konnte man am Mittwoch, dem 9. November bei dem Auftritt des Außenministers im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gewinnen. Dr. Guido Westerwelle stellte seine Vorstellungen für erforderliche integrationspolitische Fortschritte zur Schaffung einer „Stabilitätsunion“ vor.

Neben dem unmittelbar notwendigen kurzfristigen Krisenmanagement für die aus dem Ruder gelaufene Euro-Krise hält er angesichts der erdrückenden Nachrichtenlage weitere entschiedene Schritte für notwendig. In der Diskussion über den richtigen Weg zu einer politischen Union sind für ihn Wachstum und neoliberales Konkurrenzdenken aber zwei wesentliche Voraussetzungen, die außer Frage stehen. Diese beiden Faktoren sollen es ermöglichen, in einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion die Marktanteile des Anderen zu übernehmen. Dies mag zwischen rein wirtschaftlich aufgestellten Unternehmen funktionieren, es funktioniert aber nicht zwischen Gesellschaften und Staaten, die einer gemeinsamen Union angehören. Diese Ignoranz des neoliberalen Denkens ist ein wesentlicher Grund für die beständige Eskalation der Krise. Sie hat im Vergleich zum April 2010 ein so großes Maß angenommen, dass nun sogar ein Konvent nach Artikel 48 EUV (Vertrag über die Europäische Union) einberufen werden soll, um die Verträge marktkonform zu verändern.

Nach Artikel 48 beschließt der Europäische Rat mit einfacher Mehrheit die Prüfung von Vorschlägen zur Änderung der Verträge, dann muss der Ratspräsident einen Konvent von Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, des Europäischen Parlaments (EP) und der Kommission einberufen. Der Rat kann aber auch mit Zustimmung des EP eine Regierungskonferenz der Mitgliedsstaaten der EU 27 einberufen. Nach den jetzigen Vorstellungen des Europäischen Rates soll diese Entscheidung auf dem Dezember-Gipfel getroffen werden, bis dahin werden die Vorschläge diskutiert. Einer der Änderungswünsche ist die Etablierung eines europäischen Sparkommissars für „Defizitsünder“. Aber Sünden werden vom Pfarrer vergeben, nicht von einem Kommissar. Straftatbestände hingegen werden gerichtlich beurteilt.

Nach Vorstellung von Westerwelle soll ein Kommissar „Durchgriffsrechte“ auf die nationalen Haushalte bekommen, was nichts anderes bedeutet, als die finanzpolitische Souveränität der nationalen Parlamente erheblich einzuschränken. Er spricht davon, eine Brandmauer einzuziehen, „damit das, was in anderen Ländern stattfindet, nicht zu uns überschwappt“. Als würde es sich um einen Hausbrand handeln, der in einem Zimmer ausgebrochen ist.

Es handelt sich aber um einen finanzmarktpolitisch entfesselten Hurrikan, der die gesamte EU bedroht. Die Euro-Krise besteht doch nicht im defizitären Budget eines Einzelstaates, sondern in der Unzulänglichkeit der institutionellen Ordnung der EU. Es ist doch gerade der gescheiterte Verfassungsprozess, der die EU in die jetzige verfahrene Lage bringt. Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene neoliberale Ausrichtung, mit dem die Kapitalverkehrsfreiheit festgelegt wurde, ist der ordnungspolitische Baustein, der die finanzmarktpolitischen Kräfte entfesselt hat. Nur fünf Monate nach In-Kraft-Treten war Griechenland pleite, keine zwei Jahre später steht die gesamte Eurozone vor dem Zerfall. Die Kapitalfreiheiten müssen reguliert werden, wenn die mühselig erarbeitete europäische Friedensdividende der vergangenen 60 Jahre Bestand haben soll.

Für eine Regulierung ist die weitere Unionisierung in der Tat eine der beiden denkbaren Richtungen. Aber in seinem Urteil über die Rechtmäßigkeit des Rettungsschirms hat das Bundesverfassungsgericht im September 2011 hervorgehoben, dass der Rahmen des Grundgesetzes für eine weitere europäische Integration weitestgehend ausgeschöpft ist. Daraus folgt, wenn die Vorstellungen des Außenministers über einen europäischen Haushalts- und Sparkommissar, die ausnahmsweise mal mit denen der Bundeskanzlerin in Übereinkunft stehen, was in der schwarz-gelben Bundesregierung ja selten genug der Fall ist, realisiert werden sollen, muss ein Teil des Haushaltsrechts des Bundestages an eine europäische Institution übertragen werden. Dies ist ein so weit reichender Eingriff in die nationale Souveränität, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine neue Verfassung geben müssten.

Nach einem abgeschlossenen Europäischen Konvent müsste in der Bundesrepublik also nicht nur das Parlament, sondern die Bevölkerung bzw. eine Nationalversammlung über die Annahme der Vorgaben für eine neoliberale Stabilitätsunion abstimmen, in der ein Sparkommissar Entscheidungsrechte über ihren Haushalt hat. Hierin liegt seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom 7. September der eigentliche politische Sprengstoff der Krise der Europäischen Union.

Die Bundesregierung verliert aus lauter Angst vor dem durch den Vertrag von Lissabon entfesselten Finanzmarkthurrikan jedes Maß an Bodenhaftung. Sie arbeitet mit ihren Vorstellungen der europäischen Knute im Bereich der exotischen Blütenträume. Sie verschlimmert damit die Krise. Sie verstärkt die antieuropäischen Einstellungen. Sie verstärkt die antideutschen Ressentiments. Sie versucht, eine politische Ordnung durchzusetzen, die schon bei der Einführung des Euro nicht durchzusetzen war und an der die Zustimmung zur Verfassung gescheitert ist.