Seit 2010 hat die Regierung von Viktor Orban eine zwei Drittel Mehrheit im ungarischen Parlament und nutzt diese, um der Regierungspartei eine systematische Vorrangstellung in Ungarn auch über die Wahlperiode hinaus zu sichern. Das Verfassungsgericht wurde in seiner Unabhängigkeit beschnitten, die Gewaltenteilung unterminiert. Recht und Unrecht sind keine juristischen oder ethischen Kategorien mehr, sondern eine reine Machtfrage. Im Praktischen drängt sich das Bild einer schleichender Ermächtigungsstrategie auf, die nichts mit den europäischen Vorstellung von Demokratie im 21. Jahrhundert zu tun hat, man fühlt sich an eine Wiederkehr der 1930er Jahre erinnert. Dies wird durch einige Beispiele untermauert.
Das ungarische Parlament hat im Juli 2011 mit der Zweidrittelmehrheit der regierenden Fidesz-Partei von Premier Victor Orban ein Gesetz beschlossen, das Arbeitslose zu Arbeitsdiensten zwingt. Sollten die Betroffenen dies ablehnen, haben sie kein Anrecht mehr auf Sozialleistungen. Mit diesem „Ungarischen Arbeitsplan“ hat Orban eine neue Runde Angriffe auf die ungarische Bevölkerung eingeleitet, die von einem weiteren Ausbau autoritärer Staatsstrukturen begleitet werden. Die Vergütung für die Zwangsarbeiter orientiert sich am Sozialhilfesatz von 28.500 Forint (in etwa 110 Euro) im Monat und beträgt damit nicht einmal die Hälfte des geltenden Mindestlohns von monatlich 78.000 Forint. Mit dem Vorhaben will Orban jährlich rund 225 Mio. Euro einsparen und eine massive Absenkung des landesweiten Lohnniveaus herbeiführen.
Bislang kommen rund 400.000 Ungarn für die Maßnahme in Frage. Um die Anzahl der potentiellen Zwangsarbeiter zu erhöhen, wird die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 270 Tagen auf bis zu 180 Tage gesenkt. In einem Interview machte Orban kürzlich klar, dass diese Zwangsarbeit seiner Ansicht nach dringend geboten sei. Aufzuschüttende Dämme etwa würden künftig „nicht mit der Technologie des 21. Jahrhunderts gebaut (…), sondern mit der Hand“. Arbeitslose können demnach sowohl für staatliche Vorhaben eingesetzt, als auch an Privatunternehmen „verliehen“ werden. Es ist wohl kein Zufall, dass die Pläne anlässlich des Besuchs von Chinas Ministerpräsident bekannt gegeben wurden. China will in Ungarn nicht nur im großen Maßstab Staatsanleihen aufkaufen, sondern auch in Industrie- und Infrastrukturprojekte investieren. Hunderte von Menschen wurden zu Geldbußen verurteilt, weil sie auf der Straße leben.
Wer seit dem 1. Dezember 2011 öffentliche Plätze „sachfremd nutzt“ – was immer man darunter versteht –, der riskiert eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro. Und kann er nicht zahlen, droht ihm im Wiederholungsfall Gefängnis. Der Initiator des landesweiten Gesetzes heißt Máté Kocsis, ist 30 Jahre alt und seit Herbst 2010 Bürgermeister im Achten Bezirk von Budapest. Kocsis gilt als aufsteigender Stern in der Fidesz. Während Orbán versucht, die EU mit scheinheiligen Maßnahmen wie beispielsweise der so genannten „nationalen Romastrategie“ zufrieden zu stellen, werden Roma im Alltag zunehmend diskriminiert und kriminalisiert. So wurden beispielsweise Stiftungen, die sich um Arbeits-, Bildungs- und Kulturprojekte der Roma kümmerten, wegen „Ineffizienz“ aufgelöst, um sie in ein „neues System“ zu überführen, das die staatliche Kontrolle zementiert.
Wie Pester-Lloyd, die Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa in dieser Woche berichtet, hat sich ein Parlamentsabgeordneter der neofaschistischen Partei Jobbik vor der Kommunalwahl 2010 gegenüber seinen potentiellen Wählern besonders empfehlen wollen und in einem medizinischen Labor sein Blut auf „genetische Rassenreinheit“ untersuchen lassen. Dies hat ihm ein Zertifikat ausgestellt, in dem bestätigt wird, dass er „weder Roma noch Juden als Vorfahren“ hat. Der Skandal ist dabei nicht einmal, dass der Abgeordnete der Jobbik auf eine solche Idee kam, die mit seinem Parteiprogramm in Übereinstimmung steht, sondern, dass ein in Ungarn zertifiziertes medizinisches Labor sich zu solcher „Analyse“ bereitfand. Als ob es ein „Roma-“ oder ein „Juden-Gen“ gäbe. Jobbik („die Besseren oder die Rechteren“) hat bei der Parlamentswahl von 2010 rund 17 Prozent der Stimmen erhalten.
Gepunktet hat sie unter anderem mit ihrer Agitation gegen die in Ungarn lebenden Roma. Selbsternannte Bürgerwehren patrollieren durch Ortschaften mit hohem Roma-Anteil, um laut auf „Zigeunerkriminalität“ aufmerksam zu machen. Wie viele Roma genau in Ungarn leben, ist ungewiss, aber offizielle Schätzungen der Regierung von Anfang 2011 geben ihre Zahl mit 600.000 bis 700.000 an, das entspricht 6 bis 7 % der Bevölkerung. Für das Osterwochenende 2011 hatte eine rechtsradikale, paramilitärische Gruppierung zu einem Trainingslager am Ortsrand nach Gyöngyöspata eingeladen. Die Teilnehmer sollten zu der Wehrübung in Uniformen und mit Gummigeschoss-Waffen erscheinen. Bereits im März hatte eine andere rechtsradikale Gruppierung den 2800-Einwohner-Ort drei Wochen lang mit Märschen terrorisiert. Das Rote Kreuz hat vorsorglich 277 Roma-Frauen und Kinder aus dem Dorf Gyöngyöspata in Sicherheit gebracht. Der ungarische Regierungssprechers erklärte flugs, die Evakuierung sei nicht aufgrund einer „Notsituation“ durchgeführt worden, es handle sich vielmehr um einen länger geplanten „Ausflug“. Berichte über eine Notfallräumung seien „eine glatte Lüge“ und deshalb wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der klären soll, „wer Ungarn diffamiert“ hat.
Am 04. Juni beging Ungarn auf Anordnung der Regierung wieder den „Trianon-Gedenktag“, dieser war auch Hauptthema einer „Festsitzung“ im Parlament. Der neue Staatspräsident János Áder (Fidesz), der von Orban – in dessen Funktion als Fidesz-Parteichef – nominiert worden war, sprach vom „ungerechten Frieden“ von Trianon, der eine „beschämende Situation, sogar für die Menschen der Siegermächte“ produzierte. Das wäre in etwa so, als würde in Deutschland ein Versailles-Gedenktag an die Ereignisse von 1919 eingeführt und im Bundestag eine offizielle Gedenkveranstaltung durchgeführt, in der an die Dolchstoßlegende erinnert wird, unerträglicher Revanchismus, der die Kriegstrommeln rührt. Die ungarische Regierung beschädigt die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei systematisch und produziert dadurch in hohem Maße ethnisch motivierte politische Spannungen in Osteuropa, die auf eine territoriale Neuordnung in Richtung „Groß-Ungarn“ ausgerichtet sind. Vorbild ist hier die einseitige territoriale Abspaltung des Kosovo von Serbien im Jahr 2010. Sie ist nach einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 2010 rechtens und habe nicht gegen das Völkerrecht verstoßen.
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