Fortsetzung: Begleitend zum Zusammenbruch des Realsozialismus wurde zunächst über eine unipolare Welt unter Leitung der USA oder eine multipolare Welt mit verschiedenen Machtzentren diskutiert. Diese Diskussion ist heute entschieden. Wir haben eine multipolare Welt, in der mehrere politische Machtzentren miteinander um Vorherrschaft ringen. Eines dieser Zentren ist dem eigenen Anspruch nach die Europäische Union.

Mit ihrer Lissabon-Strategie haben die Staats- und Regierungschefs beschlossen, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Als Messlatte dienten Japan und die USA. Der Gedanke des Wettbewerbs wurde nicht nur auf das Verhältnis der EU und den konkurrierenden Zentren Japan und USA gewidmet, sondern auch auf das Binnenverhältnis der EU. Der Neoliberalismus wurde zur Leitlinie der Entwicklung der gesamten Europäischen Union.

Auch die deutsche Regierung wertet die Lissabon-Strategie als gescheitert, ein Grund zum Strategiewechsel hat sie darin aber nicht gesehen. Im Gegenteil, mit der Europa 2020- Strategie wurde die neoliberale Linie fortgeschrieben. Die Eurokrise wird nun für zusätzliche Schocktherapien genutzt. Mit der Troika werden sie in Irland, Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern und mit dem IWF in fast ganz Mittelosteuropa durchgesetzt. In der Euro-Zone liegt der Brennpunkt seit geraumer Zeit auf Frankreich, das Stichwort lautet: mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, die Lohnkosten und die Kosten der Sozialpolitik seien zu hoch, das Rentenalter zu niedrig.

Das politische, ökonomische, kulturelle und soziale Herz der Aussöhnung nach dem zweiten Weltkrieg ist die französisch-deutsche Freundschaft. Die Zusammenarbeit ist seit dem Ende des zweiten Weltkriegs an das Element eines Gleichgewichts gekoppelt. Ohne Symmetrie wäre das Verhältnis keine deutsch-französische Freundschaft geworden. Das Schlagwort vom deutsch-französischen Motor hätte ohne den Gleichtakt nicht die Bedeutung bekommen, die es über lange Jahrzehnte hatte. Doch der Motor, der in den 1950er Jahren seine ersten Umdrehungen gelaufen ist, ist in die Jahre gekommen. Das liegt nicht nur an den zurückgelegten Integrationskilometern, sondern auch an dem Wandel, der mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus eingesetzt hat.

Im Mai 2010 trat die Bundeskanzlerin vor den Deutschen Bundestag und beantragte die Bewilligung für das erste griechische Bankenrettungspaket. Erst im Oktober 2008 hatten Bundestag und Bundesrat als Reaktion auf die Finanzkrise, die durch den Crash der Lehman-Brothers-Bank ausgelöst wurde, ein 480-Milliarden Programm zur Bankenrettung durchgepeitscht. Der Mangel der gegenwärtigen EU und der Euro-Zone liegt darin, dass eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne eine politische Union ein Hocker mit zwei Beinen ist. Seitdem ist die Krise von der Peripherie ins Zentrum vorgedrungen und im Dezember 2012 wurde das Ende der Symmetrie zwischen Deutschland und Frankreich verkündet.

Deutschland und Frankreich driften ökonomisch, sozial und politisch in unterschiedliche Richtungen. Der deutsche Vorwurf: Frankreichs wirtschaftlicher Abstieg zerstört die Symmetrie im Euroraum. Die deutsche Forderung: Frankreich braucht eine Hartz-IV Reform. Als Folge auf die politischen Linienvorgaben von Schwarz-Gelb wird die deutsch-französische Freundschaft als deutsche Hegemonie wahrgenommen. Innerhalb von einem halben Jahr wurde der horizontale Ansatz in einen vertikalen umgedeutet.

Obwohl Frankreich von der EU-Kommission eine Fristverlängerung für seine Defizitbewältigung bekommen hat, gewinnt die Diskussion an Schärfe. Sie ist mehr als eine momentane Verstimmung, sie hat einen langfristigen Trend, eine Konsequenz aus der veränderten Architektur von einer westeuropäischen EU der 15 hin zu einer neoliberalen EU der 28. Rückblickend auf den Beginn der deutsch-französischen Aussöhnung in den 1950er Jahren war das Kräfteverhältnis auf die Achse von London, Paris und Bonn ausgerichtet, nicht auf die Achse von London, Paris und Berlin.

London ist nicht Mitglied in der Euro-Zone, David Cameron hat sich mit seinem Vorstoß zu einem Referendum nach der Wahl 2015 über den Verbleib Großbritanniens in der EU für die Konstituierung Europas als Freihandelszone ausgesprochen. In einem Manifest der UKIP wird es so formuliert: „Unser Ehrgeiz ist es, auf dem Erfolg des Binnenmarktes aufzubauen. Wir wollen sicherstellen, dass die EU-Institutionen den Binnenmarkt schützen und vertiefen. Wir wollen die britische Souveränität schützen, sicherstellen dass das britische Parlament entscheiden kann, was das Beste für Britannien ist. Wir teilen das Ziel einer immer engeren Union nicht, wie es in den EU-Verträgen formuliert ist.“ Das Verhältnis London-Berlin-Paris ist derzeit so gestaltet, dass Berlin in einer Mittlerfunktion zwischen den Gegensätzen Vollendung der politischen Union und Freihandelszone steht.

DIE LINKE hat den Vertrag von Lissabon und die Einführung des Euro stets auf Grund seiner neoliberalen Ausrichtung scharf kritisiert. Dennoch sind die EU und der Euro aus dem Blickwinkel der verfeindeten Nationen im 20. Jahrhundert eine Möglichkeit zu dauerhaften Frieden. DIE LINKE kann deshalb keine Freude daran haben, dass sie mit ihrer Kritik Recht hat. Ein solches Rechthaben würde im Falle, das die Euro-Zone tatsächlich zerfällt, sehr schnell bitter schmecken. Es wäre – um bei den Griechen zu bleiben – ein Pyrrhussieg.