Wenn hierzulande über Estland berichtet wird, geschieht dies häufig im Zusammenhang mit E-Voting. Denn am 16. Oktober 2005 hat Estland als erstes Land weltweit elektronisches Wählen zum Nationalparlament Riigikogu (101 Sitze) zugelassen. Bei der Wahl am 1. März 2015 haben über 20% derjenigen, die ihre Stimmen abgegeben haben, per Computer gewählt. 80% haben mit Wahlschein gewählt. Auf Grund der unterschiedlichen Wahlweisen kam es im Laufe des Abends zu deutlichen Verschiebungen in den Hochrechnungen, die manuell ausgezählten Ergebnisse der ländlichen Regionen waren konservativer als die elektronisch abgegebenen Stimmen. Die Gesamtbeteiligung der ca. 900.000 Berechtigten lag laut Wahlleiter bei 63,7%. Darüber hinaus leben ca. 91.000 Staatenlose in Estland, meist russische Muttersprachler_innen, die sogenannte »graue Pässe« haben und nicht stimmberechtigt sind.

Als Ergebnis der Wahlen sind wie 2003 sechs Fraktionen im Parlament vertreten. Die Regierungsparteien Estnische Reformpartei (ER) hat 0,9% und die Sozialdemokratische Partei (SDE) 1,9% verloren. Die Estnische Reformpartei wurde 1994 als liberale Partei gegründet und zog mit 19 Abgeordneten in das Parlament ein. Auch 2003 bekam sie 19 Sitze, stieg in 2007 auf 31 Sitze, in 2011 auf 33 und stellt seit 2014 den Ministerpräsidenten. Die Sozialdemokratische Partei trat noch 2003 als Volkspartei Die Moderaten an (6 Sitze), hatte 2007 als SDE 10 Mandate, 2011 stieg sie auf 19 und verlor in 2015 davon vier (15 Sitze). Durch die sieben verlorenen Mandate im Vergleich zur Wahl von 2011 hat die Koalition ihre Mehrheit verloren und Estland stehen nun Koalitionsverhandlungen in einer Dreierkonstellation bevor.

Als einzige Gesprächspartei hatte die Reformpartei die Zusammenarbeit mit der estnischen Zentrumspartei (K) ausgeschlossen, die hierzulande als mal populistisch, mal linksgerichtet, jedoch durchgängig als prorussisch beschrieben wird. Im Europaparlament sind sie seit 2004 (EU-Beitritt) Mitglied in der Fraktion Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) und der Europäischen liberalen Partei ELDR. Die Stammwähler_innen der Zentrumspartei werden der russischen Minderheit zugerechnet, sie stellt ein Viertel der Einwohner_innen. Man könnte sagen, das Repräsentativitätsmodell funktioniert, wenn eine Minderheit von ca. 25% bei Wahlen mit 27% zweitstärkste Kraft wird. K wurde 1991 gegründet und hat 2003 im Ergebnis 25,4% bekommen (28 Sitze), 2007 26,1% (29 Mandate), 2011 23,3% (26 Sitze) und 2015 24,8% (27 Sitze). Sie schwankt zwischen 26 und 29 Mandaten.

Die Pro-Patria und Res Publica Partei ist 2007 aus dem Zusammengehen von Res Publica (24,6% in 2003) und Vaterlandsunion (7,3% in 2003) entstanden und hatte 28 Mandate bekommen, gleichauf mit der Zentrumspartei. Im Jahr 2007 hatte sie 14% verloren und 16 Sitze eingebüßt, 2011 konnte sie 2,6% wieder dazu gewinnen und kam auf 23 Mandate. Sie hat 2015 6,8% eingebüßt und 9 Sitze verloren. Die Wähler_innen sind im Wesentlichen zwischen Pro Patria (-9), Reformpartei (-3) und Sozialdemokraten (-4) gewandert, die Bewegungen finden im konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Lager statt.

Zwei weitere Parteien konnten erstmals in Fraktionsstärke einziehen. Die Estnisch Freie Partei (EVA) hat 8,7% und 8 Mandate bekommen, ihr Vorsitzender war vormals in der 2007 fusionierten Res Publica und hat eine Kritik an die estnische Elite auf die Fahne geschrieben. Sie traten mit Losungen wie »Wir geben dem Volk den Staat zurück!« und »Stoppt das Mästen der Parteien!« an. Hier wird eine
Rutschbewegung sichtbar, die die Fusionierung der Vaterlandsunion mit Res Publica von 2007 rückgängig macht.

Die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) hat aus dem Stand 8,1% und 7 Mandate bekommen, ihr Gegenstand ist die Bewahrung der estnischen Ethnizität. Sie ist eine Neugründung aus der Volksunion von Estland und der Estnischen Patriotischen Bewegung. Politisches Profil ist die Stärkung junger estnischer Familien, gegen die rechtliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen, weitere Immigration von außerhalb der EU und Euro-Skepsis. Hier wird ein Konglomerat ähnlich der AfD sichtbar. Darüber hinausgehend nehmen sie am jährlichen Treffen der Veteranen der Estnischen Legion der Waffen-SS teil.

Mit diesem Blick in die Entwicklung der estnischen Parteienlandschaft erscheint die Zentrumspartei als stabiler Faktor. Die Bewegungen haben im konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Lager stattgefunden. Dies könnte für eine junge, sich wieder findende Demokratie in einer Umbruchzeit als relativ normaler Vorgang eingeordnet werden. Dennoch hat der Wahlkampf 2015 unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine und dem sich verschärfenden Verhältnis zwischen USA, EU und Russland stattgefunden. Hier hat sich der Vorsitzende der K-Partei für eine stärkere Bindung an Moskau ausgesprochen, um Estlands Sicherheit zu garantieren. Allerdings spielten ebenso die Themen von EVA und EKRE, Korruption, Migration, rassistischer Nationalismus, Faschismus, Homophobie, EU- und Euro-Skepsis erhebliche Rollen. In Estland ist es dem rechtsextremen bis faschistischen Rand gelungen, sich parlamentarisch zu etablieren.