Nach dem Setzen eines Ultimatums durch die Euro-Gruppe, in der die Finanzminister der EU-Mitgliedsstaaten vertreten sind, deren Währung der Euro ist, hat Ministerpräsident Tsipras mitten in der Nacht ein Referendum der griechischen Bevölkerung über die Sparauflagen der Troika für den 5. Juli angekündigt. Mit der Zustimmung durch das Parlament hat er das Heft des politischen Handelns auch aus innenpolitischen Motiven in der Hand behalten. Syriza ist ein heterogenes Bündnis und steht unter großer Spannung. Der Koalitionspartner Anel macht die Lage in der Regierung nicht einfacher. Der vormalige Ministerpräsident Antonio Samaras hat, nach einem Gespräch mit dem Staatspräsidenten, auf die Beantragung eines konstruktiven Misstrauensvotums im Parlament verzichtet.

Misstrauensanträge hat Griechenland in den vergangenen Jahren zu oft gesehen, eine Hoffnung auf Veränderung der politischen Lage durch einen Regierungswechsel lässt sich dadurch nicht mehr erzeugen. Die Abstimmung durch die griechische Bevölkerung per Referendum ist im Vergleich dazu das wirkungsmächtigere Instrument. Alexis Tsipras exekutiert nun, woran der ehemalige Ministerpräsident Giorgos Papandreou 2011 scheiterte. Nach seiner Referendumsankündigung wurde er praktisch gestürzt und eine Übergangsregierung mit einer Mehrheit von 254 der insgesamt 300 Abgeordneten bis zu Neuwahlen eingesetzt. Sie hat Griechenland nicht aus der Krise geführt, sondern die Sparpolitik der Troika exekutiert. Ein Mittel, das zur Vertiefung einer Krise geführt hat, bietet auch beim zweiten Mal keine Hoffnung auf die Beseitigung der von ihm angerichteten Schäden. Seine Wiederholung ist nutzlos.

Das Finanzministerium hat am 30. Juni erstmals eine Kreditrate nicht an den IWF zurückgezahlt, damit ist die politische Situation in eine neue Belastungssituation eingetreten. Durch die Zahlungsverweigerung, die Schließung der Banken und die Begrenzung der Abhebung hat sich die seit fünf Jahren andauernde Hängepartie für die Bevölkerung erheblich zugespitzt. Der schleichende Bankensturm ist in einen offenen übergegangen und nur die Ela-Notkredite der EZB sorgen dafür, dass an den Bankschaltern überhaupt noch etwas hinauskommt. Dies verstärkt die psychologische Notstandswirkung. Ein Zusammenbrechen der Warenströme, das dem Zusammenbrechen der Finanzströme oftmals folgt, wird befürchtet. Benzin- und Lebensmittel werden gehamstert. Der Hang zu irrationalem Handeln in einer politisch, wirtschaftlich, sozial und menschlich hochdramatischen Situation kann sich schnell entwickeln.

Doch wer am Mittwoch der Regierungserklärung im Bundestag zugehört hat, bekommt den Eindruck, dass der Kanzlerin deutsche Prinzipienreiterei und Rechthaberei wichtiger ist, als Abkühlung der Stimmung und Rückkehr zu europäischem Handeln. Die anschließende Aussprache hat einmal mehr den grundlegenden Mangel der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) offenbart. Mit der Einführung des Euros wurde eine Situation geschaffen, in der man darauf gesetzt hat, dass der WWU durch den Gang der Dinge in den Mitgliedsstaaten die Bereitschaft zu einer politischen Union folgen würde. Bildlich gesprochen hatte man damit einen Gaul vor den Karren gespannt. Nun stellt man fest, dass der Gaul den Karren nicht zieht, die Bereitschaft zu einer politischen Union ist nicht größer geworden. Im Gegenteil. Der Gaul ist störrischer denn je.

Die Kanzlerin bekommt ihre Regierungsmehrheit nicht durch einen europäischen, sondern durch den deutschen Demos. Und vor dem und besonders ihrer Fraktion muss sie im Parlament ihr politisches Handeln rechtfertigen. Schon seit Wochen wird über einen erbitterten und verhärtet ausgetragenen politischen Streit im konservativen Lager berichtet, der an den Personen Merkel und Schäuble festgemacht wird. Merkel will demzufolge Griechenland im Euro halten, Schäuble will es rausschmeißen und seinen seit 1990 formulierten Traum von Kerneuropa im Schatten der Krise realisieren. Und er hat einen beträchtlichen Teil der Fraktion hinter sich.

Aber die abstrakte politische Substanz dieses Streits liegt nicht zwischen den Personen, sondern in der gewachsenen Tradition des politischen Selbstverständnisses von CDU/CSU. Sie wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich die postfaschistische Gesellschaft in Westdeutschland herausgebildet hat, als nationalchauvinistische Parteien gegründet. Die politische Souveränität Deutschlands war und ist ihr oberstes Heiligtum. Zugleich ist die Wiederanerkennung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg bei den europäischen Nachbarn aber dadurch gelungen, dass sich CDU/CSU seit Konrad Adenauer zum europäischen Einigungsprozess bekannt haben. Nationalkonservatismus und eine immer engere politische Europäische Union sind nach 70 Jahren annähernd gleichwichtige bürgerlich-konservative Merkmale. Und genau dies ist das Dilemma, das die Unionsfraktionen in eine Zerreißprobe führt. Einerseits ist nach sechs Monaten zähflüssiger Verhandlungen das Erfordernis zur Institutionalisierung einer politischen Europäischen Union sichtbarer geworden denn je. Andererseits ist das europäische Integrationspotenzial aus nationalkonservativer Sicht (im Großteil der EU-Staaten) längst überschritten. Sie wendet sich bereits in Ungarn, Finnland, Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Österreich verstärkt nationalreaktionären Kräften zu.

In die konkrete Situation in Deutschland übersetzt heißt das, Merkel und Schäuble sind aneinander gebunden. Die oftmals europäisch präsidial vortragende Kanzlerin, deren politische Lebensleistung am Erhalt des Euros bemessen wird, bekommt ohne die Zustimmung von Schäuble zur deutschen Griechenlandpolitik im Bundestag keine Mehrheit in den Koalitionsfraktionen. Würde sie alleine aus europäischen Gesichtspunkten argumentieren, würde ein großer Teil ihrer Fraktion abspringen und sie müsste auf die Zustimmung von SPD, Grünen und LINKE setzen. Schäuble ist damals mit Kohl in der Schwarzgeldaffäre gestürzt und Angela Merkel trat an seine Stelle. Nun ist er der graue Schattenkanzler, ohne dessen Zustimmung Merkel im zentralen Politikfeld ihrer Kanzlerschaft keinen Gebrauch mehr von ihrer Richtlinienkompetenz machen kann.