Beim ersten Gang zur Neuwahl des Präsidenten in Österreich hat es am 24. April massive Wahlverschiebungen gegeben und große Überraschungen. Die Demoskopie hatte bis zum Samstag vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem grünen Kandidaten Alexander von der Bellen (72 Jahre) und dem FPÖ-Kandidaten, Norbert Hofer (45 Jahre) prognostiziert. Doch das Ergebnis ist eindeutig und es wirft mit einem Seitenblick auf die Landtagswahlen vom März in Deutschland auch die Frage nach der Zuverlässigkeit der Demoskopie in der gegenwärtigen politischen Lage auf.
Hofer, Kandidat der Freiheitlichen kam laut Ergebnis des Innenministeriums im ersten Wahlgang auf 1.499.971 Stimmen und 35,1%. Van der Bellen, der manchmal auch als österreichischer Winfried Kretschmann charakterisiert wird, kam mit 913.218 Stimmen auf 21,3%. Irmgard Griss, formal unabhängige Kandidatin, kam auf 810.641 und 18,9%. Weit abgeschlagen dahinter die Kandidaten der Volksparteien. Rudolf Hundstorfer, Kandidat der SPÖ, kam auf 482.790 Stimmen und 11,3%. Andreas Khol von der ÖVP kam auf 475.767 Stimmen und 11, 1%. Der Baumagnat und Playboy Richard Lugner konnte 86.783 Stimmen und 2,3% einsammeln. Die Wahlbeteiligung ist von 53,6% auf knapp 60% gestiegen.
Das Ergebnis ist eine Zäsur. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hatten die Präsidentschaftskandidaten von ÖVP und SPÖ zusammen etwa 80% der Stimmen. Immer hat entweder ÖVP oder SPÖ den Bundespräsidenten in die Wiener Hofburg entsandt. Nun haben SPÖ und ÖVP zusammen noch 22,4%. Ein Absinken beider Parteien wurde vor dem Hintergrund der regionalen Wahlausgänge in der Steiermark, im Burgenland, in Oberösterreich und in Wien im vergangenen Jahr erwartet. Im Burgenland hat die SPÖ eine Koalition mit der FPÖ geschlossen, in Oberösterreich die ÖVP. Diese Koalitionen haben zum Absturz der nun ehemaligen »Volksparteien« von 80% auf 20% beigetragen, SPÖ und ÖVP haben die FPÖ Hofburgfähig gemacht. Wiens Bürgermeister Häupl fürchtet im nächsten Jahr vorgezogene Neuwahlen, weil die SPÖ/ÖVP Koalition diesen Niederschlag nicht ohne Erneuerung verdauen kann. Und im Vorgriff auf den Wahlkampf hat Österreich diese Woche eine »Asyl-Notstands-Gesetz« beschlossen.
Viele Österreicher sehen mittlerweile im FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache im Vergleich zum Amtsinhaber Werner Faymann (SPÖ) den besseren Kanzler. Die eigene Partei will Faymann so schnell als möglich loswerden und ruft zum Aufstand. Vor allem Arbeiter, junge Männer und Ältere sind Anhänger des FPÖ-Kurses und ihrem Hauptslogan »Österreich zuerst«. Fast drei Viertel der Arbeiter_innen wählten am 24. April die FPÖ. Die Sozialdemokraten kamen in derselben Wählergruppe auf 10 Prozent. Einige Meinungsforscher sehen in dem Erdrutschsieg der FPÖ keine Protestwahl gegen die allgemein als schlecht bewertete Regierungsarbeit von SPÖ und ÖVP. Sie sind der Überzeugung, dass viele Österreicher_innen in der aktuellen politischen Situation jemanden gewählt haben, der gegen »Ausländer« ist.
Aus dem Ergebnis heraus stellt sich die Frage nach der Entwicklung in Österreich. Van der Bellen hat 21%, Hofer 35%. Im kommenden Wahlgang braucht van der Bellen zusätzlich 30%, um zu gewinnen. Hofer hingegen 15%. Die ÖVP wird für ihre 11% anders als die SPÖ keine Wahlempfehlung geben. Auch bei der unabhängigen Kandidatin Griss (knapp 19%) ist die Zusammensetzung der Stimmen nicht klar. Sie zeigt in einem Interview mit der Wiener Stadtzeitung Falter eine verständige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus: „Es war
nicht so, dass die Nazis von Anfang an nur ein böses Gesicht gezeigt haben“. In Frankreich hatte der FN im ersten Wahlgang sein Potenzial ausgeschöpft, für die FPÖ ist das offenbar nicht so.
In der Entscheidung zwischen Hofer und Van der Bellen geht es auch um die Frage, ob das Wahlvolk in Österreich mehrheitlich den Weg Polens einschlägt. Dort hatte im April 2015 zunächst überraschend der Kandidat der PiS, Andrzej Duda (44 Jahre) gegen den liberal-konservativen Amtsinhaber Bronislaw Komorowski (63 Jahre) gewonnen. In der Herbstwahl kippten auch die politischen Mehrheitsverhältnisse im Sejm. Präsident und Kanzlerin werden nun von der gleichen Partei gestellt, im Hintergrund zieht Jaroslaw Kaczynski die Fäden für seine Vision einer vierten Republik.
Das Hofburg-Drama markiert auch eine weit reichende europäische Weichenstellung, weil sich zeigen wird, wie stark Österreich den nationalegoistischen Weg geht. Die FPÖ ist im Europa-Parlament Mitglied der Fraktion „Europa der Nationen“, weitere Parteien sind der französische Front National, die Lega Nord in Italien und die niederländische Partij voor de Frijheid (Geert Wilders). Sie spricht sich gegen den Euro, gegen die EU und für nationalpaternalistische Selbstbestimmung aus. Wenn es der FPÖ wie der PiS in Warschau gelingt, Präsident und Kanzler zu stellen, wird die Wegstrecke Wien-Berlin erheblich länger. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Austria nach der vergangenen Größe im Wiener Kongress von 1815 sehnt und die Visegrad-Gruppe mit Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei ein neues Mitglied bekommt.
Die Stichwahl um den Einzug in die Wiener Hofburg am 22. Mai 2016 steht in einem Reigen europapolitischer Entscheidungen, die bis zum Sommer anstehen. Zwei Wochen später findet am 5. Juni in Rom die erste Runde der Bürgermeisterwahlen statt, am 19 Juni eine eventuelle Stichwahl. Der Neofaschistin Giorgia Meloni werden Chancen auf den Wahlgewinn eingeräumt. Die 39-jährige Meloni ist derzeit im fünften Monat schwanger und das faschistische Lager gespalten, ob eine junge Mutter Bürgermeisterin sein kann. Deshalb hat Berlusconi einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Das nicht einschätzbare Potential von Meloni liegt in der Vermengung neofaschistischer und feministischer Positionen. Es wäre das erste Mal seit 1945, dass Faschisten in Rom an die Macht kämen.
In Madrid hat König Juan Carlos die Regierungsverhandlungen für gescheitert erklärt, die Neuwahlen werden vermutlich am 26. Juni sein. Podemos und Ciudadanos erhoffen sich Zuwächse. Sie würden drei Tage nach der Volksabstimmung in Großbritannien über den Verbleib in der EU durchgeführt (23. Juni). Dort liegen Befürworter und Gegner des Verbleibs in Umfragen etwa gleichauf. Aber wie war das gleich mit der Zuverlässigkeit der Demographie in den gegenwärtigen Zeiten?
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