Ob es in 2016 eine politische Sommerpause in der EU geben wird, steht derzeit eher in den Sternen. Mehrere politische Einzelereignisse verdichten sich zu einem engen Knoten. Griechenland steht im siebten Jahr der Staatsschuldenkrise. Die Regierung unter Alexis Tsipras hat ein erneutes Sparpaket in das Parlament eingebracht, mit dem im Rentenbereich ca. 1,8 Milliarden Euro eingespart werden sollen. Auf dem Syntagma-Platz finden wieder starke Proteste statt und die Syriza-Regierung ist in der Umfragegunst ebenso stark gesunken.
Neue Pläne des ESM unter Leitung von Klaus Regling sehen eine Entlastung vor, die auf der anderen Seite die finanzielle Belastung im Risiko der Bundesrepublik erhöhen würde. Der ESM hat eine Triple-A Bonität und zahlt erheblich weniger Zinsen für Kredite als Griechenland, aus marktwirtschaftlicher Sicht finanziell ein durchaus nachvollziehbarer Vorschlag. Aber der Schäuble-Schüler tritt mit diesem Vorschlag, genau wie IWF-Chefin Lagarde mit anderen Ideen auf den sturen Widerstand seines Meisters und Bundesfinanzministers. Die Erneuerung der Grexit-Debatte, auch durch sture deutsche Rechthaberei, ist eine gefährliche Zündelei in einer höchst sensiblen Phase der Europäischen Union.
Am 22. Mai steht der zweite Gang zur Wahl des österreichischen Präsidenten an, den ersten hat der nationalreaktionäre FPÖ-Politiker Hofer am 24. April für sich entschieden. Mit dem dieswöchigen Rücktritt des sozialdemokratischen Kanzlers Werner Faymann versucht die SPÖ, die politische Initiative in der Hand zu halten. Sie hat den Bahnmanager Christian Kern (SPÖ) als neuen Kanzler und Parteivorsitzenden vorgeschlagen. Ein noch durch den scheidenden Präsidenten Fischer vereidigter Kanzler, so die Hypothese, könne vom neuen Präsidenten Hofer nicht so einfach entlassen werden wie Faymann. SPÖ und ÖVP hoffen mit diesem Trick, die Wahlperiode über die reguläre Dauer bis 2018 tragen zu können.
Aber der Präsident hat eine Alleinentscheidungskompetenz zur Entlassung von Kanzler und Regierung. Vorgezogene Neuwahlen würden ähnliche Proportionen ins Parlament bringen wie im ersten Wahlgang vom 24. April. SPÖ und ÖVP zusammen bei 22%-23%, die FPÖ bei 35%. Werden Präsident und Kanzler von der FPÖ gestellt, ist mit Hofer und Strache das Ende der zweiten Republik in Wien besiegelt. Das Beispiel Polens würde sich wiederholen, wo der PiS-Gründer Kaczynski die Strippen für den Übergang in die IV. Republik zieht. Fällt die Hofburg an die Blauen, stärkt das den Trend für die zwar lila-gelb daher kommende, aber im Geiste doch ebenfalls blaue United Kingdom Independent Party (UKIP).
Sie ist die politisch treibende Kraft hinter der Abstimmung über Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs, die knapp fünf Wochen nach der Hofburg-Wahl am 23. Juni durchgeführt wird. PiS, FPÖ, FN und UKIP sind in der Ablehnung der EU und dem Wunsch zur Resouveränisierung der Nation bzw. des Empires einig. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl in Wien wird in der Londoner Downing Street 10 aufmerksam beobachtet, die politische Zukunft des konservativen Premierministers David Cameron wird nach einem Sieg von Hofer fraglicher.
Hans-Christian Strache, Kanzlerkandidat der FPÖ im Wartestand, steht politisch an der Seite von Marine le Pen, Präsidentschaftskandidatin des blauen Front National, für die nächstes Jahr stattfindende Präsidentschaftswahl in Frankreich. Auch sie wird sich über die österreichischen Kräfteveränderungen freudig die Hände reiben, weil sie sich selber ein Stück näher an der
Realisierung ihrer Pläne für Sommer 2017 sieht. Hans-Christian Strache und Marine le Pen haben 2014 gemeinsam einen neuen EU-Vertrag und ein Referendum darüber verlangt. Zusammen mit der neofaschistischen Lega Nord (Italien) bilden FPÖ und FN im Europäischen Parlament die Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“.
Methodisch beschreiten Strache und Le Pen den Weg von Nigel Farage, der den britischen Premierminister auf den Weg des EU-Referendums getrieben hat. Im Falle des Scheiterns von Cameron – also wenn das VK mehrheitlich für den Austritt aus der EU stimmt – wird er alsbald den Weg von Faymann antreten. Londons ehemaliger Bürgermeister Boris Johnson, nicht nur seine Frisur, auch sein Stil erinnert an Donald Trump, läuft sich für die Kanzlerschaft warm. Dies wird nicht so einfach zu machen sein, die Zeichen stehen dann auf vorgezogene Neuwahlen und einen politischen Aufschwung für UKIP.
Drei Tage nach dem Brexit-Referendum werden am 26. Juni in Spanien die angesetzten Neuwahlen des Parlaments durchgeführt. Seit Dezember 2015 ist die Regierung unter Mariano Rajoy (Partido Popular) nur noch geschäftsführend im Amt. Podemos wird zu diesen Wahlen mit der Izquierda Unida (IU) in einem Bündnis antreten, sie erhoffen sich einen Zugewinn in den Wahlen, der sie zur stärksten parlamentarischen Kraft macht. Damit könnte nach Athen und Lissabon auch in Madrid eine linke pro-europäische Regierung ins Amt kommen.
In der Gesamtschau der Ereignisse haben wir es in der Grundtendenz mit einem Wahlprozess zu tun, der die nationalistischen Fliehkräfte gegenüber dem weiteren Integrationsprozess der EU aufwerten kann. Noch stehen die Ergebnisse nicht fest. Das hier linear gezeichnete, zur Entscheidung anstehende Szenario behandelt die kommenden Wochen bis zur parlamentarischen Sommerpause. Treten sie ein, haben nicht nur die Gremien der EU im Sommer einen intensiven politischen Beratungsbedarf.
Es wäre ein politisches Erdbeben im Zentrum der EU, das sich auf die anstehenden Landtagswahlen im Herbst 2016 in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin und im Frühjahr 2017 auf die im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, insbesondere auch auf die AfD-Ergebnisse auswirkt. Mit den Ergebnissen wird auch im Trend deutlich, wohin sich die politischen Kräfte zur Bundestagswahl im Herbst 2017 verschieben.
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