Seit ihrem Entstehen weisen die nationalen Regierungschefs, wenn sie nach den Gipfeln in Brüssel vor die Kameras treten, der EU die Verantwortung für die Verhandlungsergebnisse zu, denen sie zugestimmt haben. Im Jahr 2008 hatten wir eine globale Finanzkrise. Wie fast immer folgt auf diese eine Wirtschafts- und Sozialkrise. Je länger sie dauert, je stärker die sozialen Folgen für die Einzelnen spürbar werden, desto mehr wird sie eine der demokratischen Institutionen. In der Finanzkrise zeigen die Aktienstände das Ausmaß an, in der Krise der politischen Institutionen die vorläufigen amtlichen Endergebnisse. Die Strategie der Regierungschefs, der Union die Schuld zuzuweisen, kehrt sich gegen sie selber.

Mit der Finanzkrise von 2008 sind die spezifischen Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion sichtbar geworden. Seit 2010 leben wir in einer permanenten Euro-Krise, über die viele Regierungen gestürzt sind. Dies hat zu einer starken Belastung der Institutionen geführt und gleichzeitig die Ablehnung von EU und Euro in den Bevölkerungen signifikant erhöht. Die Kriege in der EU-Nachbarschaft, vor allem im muslimisch geprägten Nahen Osten, haben eine starke Migration in die EU zur Folge. Der Versuch einer einheitlichen Europäischen Lösung haben die Stressfaktoren massiv erhöht. Schengen wurde außer Kraft gesetzt, Mauer- und Grenzregime wieder eingeführt. In dieser politischen Gemengelage ist Premierminister David Cameron im Februar 2016 mit drei frischen Hemden zum EU-Gipfel nach Brüssel angereist.

Gebraucht hat er sie als Teil einer groß angelegten Inszenierung, mit der er der United Kingdom Independence Party (UKIP) im britischen Wahlkampf 2015 das Wasser abgraben wollte. Mit den indirekten Assoziationen zu Mühsal und Schweiß hat Cameron die Spur zu Winston Churchills Rede gelegt, mit der dieser das Königreich 1940 auf den Eintritt in den zweiten Weltkrieg vorbereitete. Cameron hat auf die Härte angespielt, mit der der Abstimmungskampf geführt werden würde. Sämtliche zivilisatorische Standards wurden in der Hitze des Gefechts gebrochen. In der Woche vor dem Referendum wurde eine Befürworterin aus politischen Motiven auf der Straße ermordet. Am 23. Juni haben 72% der Berechtigten von ihrer Stimme Gebrauch gemacht. 52% für »Leave« gestimmt, 48% für »Remain«.

Nach der Niederlage hat der Premier seinen Rücktritt für Oktober erklärt. Die Frage »Drinnen oder Draußen« ist für das Verhältnis EU und VK entschieden, aber zugleich sind die Unterschiede innerhalb des VK sichtbar geworden. England und Wales haben mehrheitlich für den Austritt, Schottland und Nordirland aber dagegen gestimmt. Die Auswertung zeigt auch einen Generationenbruch. Die jungen, die in der Zeit der Mitgliedschaft der EU seit 1975 aufgewachsen sind, haben sich mehrheitlich für die EU ausgesprochen. Die alten, die sich noch an die politische Stellung des kolonialen Empire erinnern, dagegen. Doch die schöne Zeit der Jugend, sie kehrt nicht zurück. Nun wird die SNP ein erneutes Referendum in Schottland anstreben und die Zugehörigkeit von Nordirland kommt auch wieder auf den Prüfstand, Erinnerungen an den Bloody Sunday und den Kampf der IRA werden lebendig. Dem Austritt aus der EU folgt eine Zerreißprobe des Vereinten Königreichs.

In nahezu allen Mitgliedsstaaten der EU und des Euro haben sich Kräfte wie UKIP parteipolitisch organisiert. Sie sind Bewirtschafter der politischen Stimmung, die sich aus der dritten Welle der Krise, also der Ablehnung der EU als politischer Institution, der spezifischen Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung und der Ablehnung von Migration als Folge
der Kriege und Krisen der EU-Nachbarschaft speist. Anfang April hat Geert Wilders von der Partij voor de Vrijheid den Anfang vom Ende der EU bejubelt, als eine Volksabstimmung in den Niederlanden mehrheitlich das EU-Abkommen mit der Ukraine abgelehnt hatte. Im Mai wurde auch in der Wiener Hofburg-Wahl ein quantitativer Sprung in der politischen Stimmung sichtbar, als es nur durch maximale Bündelung der pro-europäischen Kräfte gelungen ist, den Kandidaten der FPÖ aus dem Präsidialamt herauszuhalten.

Vor zwei Wochen haben der FPÖ-Vorsitzende und die AfD-Vorsitzende zusammen auf der Zugspitze posiert. Dort haben sie eine Intensivierung ihrer Zusammenarbeit verkündet. In der vergangenen Woche trafen sich neun rechte Parteien, darunter Front National, FPÖ und AfD in Wien. Ihr Treffen lief unter dem Namen »Patriotischer Frühling«, in Anspielung an den Arabischen Frühling haben sie damit eine weitere gezielte Provokation gesetzt. Der Arabische Frühling ist gegen genau diese Form von Paternalismus und Unterdrückung aufgestanden, die der Patriotische Frühling von Strache, Le Pen und Petry heute als seine innere Kulturform vorstellt. Das politische Ziel der Vaterländischen ist eine vollständige Verkehrung dessen, was Demokratischer Frühling meint.

Die Abstimmung im Vereinten Königreich hat die Konturen der bevorstehenden EU-weiten Auseinandersetzung in seiner Profilierung vollständig erkennbar gemacht. In der basalen Ebene geht es um eine Ablehnung der offenen Gesellschaft und ihrer humanistischen, solidarischen und internationalistischen Kultur. Am Sonntag wird in Spanien ein neues Parlament gewählt, auf Grund der Ergebnisse vom Dezember ist die Regierung von Mariano Rajoy nur noch geschäftsführend im Amt. Das neue Linksbündnis aus Izquierda Unida und Podemos hat unter dem Etikett »Neue Sozialdemokratie« hart gekämpft und hofft auf einen Wahlsieg, um die Austeritätspolitik zu beenden, die viele gegen die EU aufbringt. Diese Auseinandersetzung wird auch in den vor uns liegenden Wahlkämpfen 2017 in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland eine starke Rolle spielen.

Bei aller berechtigten Kritik an der Austeritätspolitik und bei aller Notwendigkeit der inneren und äußeren Veränderung von Europäischer Union und Euro. DIE LINKE stellt sich entschieden gegen die nationalreaktionären Kräfte, die ein Europa der Nationen und Vaterländer wollen. Sollten sie sich durchsetzen, dies zeigt die innere Lage des UK am Morgen nach der Brexit-Abstimmung, droht ein Rückfall in die Zeit, in der Winston Churchill seine Rede über »Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß« hielt.