Nach vier Monaten intensiver Kampagne hat das Vereinte Königreich im Juni mit dem Votum für den Austritt aus der Europäischen Union einen Impuls gesetzt, der seine mittel- und langfristigen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen gerade erst zu entfalten beginnt. Nach dem Premierminister haben sich auch die führenden Personen der Brexit-Kampagne aus der politischen Verantwortung zurückgezogen. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn wurde von seiner Fraktion abgestraft. Chaos-Tage in London. Aber nicht nur dort.
Am 1. Juli hat das österreichische Verfassungsgericht der Wahlanfechtung der Stichwahl zur Präsidentschaft vom 22. Mai des Jahres entsprochen und auf vollständige Wiederholung des Wahlgangs entschieden. Durch vielfältige handwerkliche Verfahrensfehler konnte dem Gerücht möglicher Manipulationen nicht glaubhaft der Boden entzogen werden. Die verfassungsjuristische Entscheidung hat diese unterschwellige geführte, aber anhaltende Debatte beendet. Sie hat einen erneuten Wahlkampf in Österreich eröffnet, der den vorherigen in Schärfe und Tiefschlägen überbieten wird. Die Debatte über OSZE-Wahlbeobachter und Bananenrepublik gehört dazu.
In der Wahlkampfauseinandersetzung dürfte sich nach der Brexit-Abstimmung der Schwerpunkt der vergangenen Kampagne verschieben. Nicht mehr allein die Frage des Zuzugs von Flüchtlingen wird im Wiener Fokus stehen, sondern erstens das generelle Verhältnis von nationaler Souveränität Österreichs und Europäischer Union und zweitens das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zunächst wurde über den 25. September als Wahltag gesprochen, doch dieser wurde nicht gehalten.
Die EU hatte im September 2015 beschlossen, per Quote insgesamt 160.000 Flüchtlinge aus den Ankunftsländern Italien und Griechenland auf alle anderen Mitgliedstaaten zu verteilen. Schon zu dem Zeitpunkt hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban gegen die Entscheidung protestiert und eine Volksabstimmung darüber angekündigt. Dieses Vorhaben hat die ungarische Regierung zwei Wochen nach dem Brexit-Referendum mit einer konkreten Frage untersetzt:
»Wollen Sie zulassen, dass die Europäische Union bestimmen darf, dass nichtungarische Bürger in Ungarn ohne Zustimmung des nationalen Parlamentes angesiedelt werden?« Das Referendum wurde von Orban in einer durch und durch rassistischen Rede zur Schicksalsfrage der Zukunft des ungarischen Volkes stilisiert. Das Parlament hat am Dienstag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der neonazistischen Jobbik für die Durchführung am 2. Oktober gestimmt. Wenige unabhängige Abgeordnete stimmten dagegen, die demokratische Opposition blieb der Abstimmung fern. Die Kosten wurden mit rund 15 Millionen Euro bewilligt und gleichzeitig Bezüge für Flüchtlinge gekürzt und erneut Rechte verändert.
Nahezu zeitgleich gaben der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Vizekanzler Reinhard Mitterlehner (ÖVP) bekannt, dass die Wiederholung der Präsidentenstichwahl ebenfalls am 2. Oktober stattfindet. Die terminliche Anbindung an das Referendum in Ungarn lässt inhaltliche Interpretationen zu: Die FPÖ setzt auf einen unterstützenden Effekt aus Ungarn. Die pro-europäischen bürgerlichen Kräfte setzen auf die abschreckende Wirkung der rassistischen Kampagne in Ungarn.
Im Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer und der EU-Osterweiterung wird zumeist auf die veränderte Lage der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen. Durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist sie geographisch von einer Randlage in eine Zentrallage gewandert und zur größten Volkswirtschaft in der EU geworden. Heute trägt sie in der EU einen Anspruch als Führungsnation vor, den die Regierung Merkel/Schäuble in der Euro-Krise oftmals mit eisernem Spardiktat untersetzt hat. Dagegen richtet sich der politische Widerstand nicht nur im Süden der EU, sondern auch im Osten.
Durch die politischen Divergenzen wird mehr und mehr sichtbar, dass auch Österreich eine Veränderung seiner geographischen und politischen Rahmenbedingungen erlebt hat. Der Eiserne Vorhang verlief durch die ehemalige Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, die nach dem ersten Weltkrieg aufgelöst wurde. In den kommenden drei Monaten geht es nicht nur um die Wiederholung einer Stichwahl zwischen FPÖ- und bürgerlich-intellektuellem Kandidaten oder ein Referendum über den Zuzug von »Nicht-Ungarn«. Es geht nach dem Ja zum Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU um die Frage der politischen Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent.
Seit 1990 haben in Berlin am 3. Oktober die Nachrichten über die Deutsche Einheit, das Ende der Europäischen Spaltung und die EU-Erweiterung dominiert. In diesem Jahr werden die Abstimmungsergebnisse in Österreich und Ungarn auf den Titelseiten stehen. Das Ergebnis in Ungarn ist relativ klar vorhersagbar, in Wien steht es wie in London Spitz auf Knopf.
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