Nach den Terroranschlägen im November 2015 hat Frankreichs Präsident den Notstand dekretiert, das Parlament hat ihn wenige Tage später mit geringen Änderungen erneuert. Die letzte Verlängerung erfolgte im Dezember 2016 bis nach den Wahlen zur Nationalversammlung. Drei Tage nach dem erneuten terroristischen Mord an einem französischen Polizisten haben 50.000 GendarmInnen und 7.000 SoldatInnen den ersten Wahlgang zur Präsidentschaft am 23. April gesichert. Wählerinnen und Wähler wurden vor Betreten der Wahllokale mit Scannern und Detektoren kontrolliert.
Das Ergebnis hat zu einem großen Jubel an den Märkten geführt. Auch in Deutschland stieg der DAX auf ein neues Allzeit-Hoch, der MDAX das erst Mal über 6.000 Punkte. Zwischen dem erstplatzierten Emanuel Macron (23,85%) und der zweitplatzierten Marine le Pen (21,43%) liegen aber nur 2,42%. In 47 der 101 französischen Départements liegt sie vorn. Macron muss Bündnisse eingehen und Zugeständnisse machen. Francois Fillon kam auf 19,94% und Jean-Luc Melenchon auf 19,62%. Das sind gerade einmal 4,24% weniger als beim Erstplatzierten. Das Ergebnis für Melenchon ist eine gute Botschaft für DIE LINKE im Bundestagswahlkampf: Ein zweistelliges Ergebnis ist möglich.
Der ehemalige Banker Macron will in der nächsten Wahlperiode 60 Mrd. Euro im Haushalt einsparen und 120.000 Jobs im Öffentlichen Dienst streichen. Die Unternehmenssteuern sollen von 33,3 auf 25% gesenkt werden. Wie werden sich die WählerInnen von Fillon und Melenchon in der Stichwahl entscheiden? Wie die WählerInnen der PS und des fünfplatzierten Kandidaten Benoit Hamon (6,35%), werden sie überhaupt wählen? Die Spekulationen werden bis zur Stichwahl am 7. Mai nicht abreißen. Danach geht es direkt in den Kampf um die Neubesetzung der Assemblee National, Wahlgänge sind am 11. und 18. Juni.
Das erste Mal seit dem Entstehen der V. Republik sind Republikaner und Parti Socialiste nicht in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen. Macron hat eine junge Bewegung hinter sich, keine flächendeckende Partei. Die Konservativen sind nach dem Rückzug Fillons offen zerstritten und uneins, wie sie mit dem zweiten Wahlgang und der Wahl zur Nationalversammlung umgehen. Jean-Luc Melenchon hat eine neue Bewegung hinter sich, aber kaum eine flächendeckende Partei. Der Front National hat einen flächendeckenden Apparat durch die Departments. Wie also wird sich die neue Nationalversammlung zusammensetzen? Machen Macron und die Republikaner einen Deal, der den zweiten Gang der Präsidentschaftswahl und die Wahlen der Nationalversammlung bündelt?
Angenommen, Emmanuel Macron (En Marche) und die Republikaner einigen sich mit dem Deal auf eine neoliberale Agenda, so käme es zu einer Cohabitation. In einer Cohabitation sind Präsident und stärkste Fraktion der Nationalversammlung aus zwei unterschiedlichen politischen Lagern. Macron wäre auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Ministerpräsidenten und seiner Parlamentsmehrheit angewiesen. Dies würde jedoch die formalen Kompetenzen des Präsidenten nicht beschränken. Er ernennt den Ministerpräsidenten und die Regierung (auf Vorschlag des Ministerpräsidenten) und kann die Nationalversammlung einmal im Jahr auflösen.
Eine Cohabitation stünde vor den gleichen gesellschaftlichen Problemen wie Hollande 2012 (Frankreich, der kranke Mann Europas). Sie würde die Agenda-Politik gegenüber den Bevölkerungsgruppen durchsetzen wollen, die im Vergleich zur jetzigen Situation benachteiligt würden. Längere Lebensarbeitszeit, geringerer Mindestlohn, Flexibilisierung der Arbeitszeit. Sie würde die Kosten der Arbeit für die UnternehmerInnen und InvestorInnen entlasten und ArbeitnehmerInnen belasten. Sie würde sich vollmundig mit dem Öffentlichen Dienst anlegen. Aber im Vergleich zu Hollande hätte sie eine vollständig andere Situation in der politischen Architektur. Die Kommunistische Partei, die Gewerkschaften und die PS wären nicht mehr in die politische Verantwortung eingebunden und bräuchten keine Rücksicht zu nehmen. Und wie würden sich der Front National und seine WählerInnen angesichts einer starken neoliberalen Agenda verhalten?
Das aktuelle französische Notstandsgesetz wurde 1955 verabschiedet, in der Zeit des Algerienkriegs. Aber seine Anwendung führte nicht zur Stabilisierung Frankreichs. Im Gegenteil, sie führte zum Ende der krisengeschüttelten IV. Republik. 1958 wurde die V. Republik mit der starken Stellung für den Präsidenten de Gaulle begründet, er wollte Frankreichs Glanz als »Grande Nation« wieder herstellen. Heute wird diskutiert, ob die Regentschaft von Francois Hollande die V. Republik zerstört hat. Er hat spätestens seit der Ankündigung seines Nicht-Wiederantritts zur Wahl ein politisches Machtvakuum eröffnet. Die Parteienlandschaft befindet sich im offenen Rutsch. Das Ausmaß wird sich erst nach der Teilwahl des Senats am 24. September vollständig offenbaren.
Es braucht kein großes hellseherisches Talent, um vorherzusagen, dass Frankreich auch nach der Wahl nicht zur Ruhe kommen wird. Es könnte sein, dass der Notzustand, ebenso wie gerade in der Noch-Republik Türkei nach dem Referendum über ein autoritäres Präsidialsystem, ein weiteres Mal über den 15. Juli hinaus verlängert wird. Er droht zum neuen Normal zu werden. Vielleicht wird er, wenn man später einmal zurückschaut, zur Geburtsstunde einer neuen französischen Republik. Angesichts dessen ist der Marktjubel, der nach dem ersten Wahlgang eingesetzt hat, doch eher befremdlich und verfrüht.
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