In Frankreich gilt das romanische Mehrheitswahlrecht, kein Verhältniswahlrecht. Es gibt nur Direktmandate, keine Listenmandate. Nach dem zweiten, entscheidenden Wahlgang zur Neubesetzung der Französischen Nationalversammlung hat die Bewegung des neu gewählten Präsidenten Emmanuel Macron, die jetzt als Partei »La Republique en Marche« (LREM) heißt, mit 308 von 577 Mandaten die absolute Mehrheit bekommen. Das Mouvement Liberal (MoDem) hat 40 Sitze bekommen. Der Präsident kann sich mit dem Bündnis beider auf eine komfortable Parlamentsmehrheit stützen.

Die Republikaner sind auf 113 Mandate geschrumpft und haben 81 Mandate verloren. Die Parti Socialiste von Ex-Präsident Hollande, der Macron selbst einmal angehörte, hat 251 Mandate verloren und bekommt nun 29 Sitze. Das ist ein Verlust von bald 90% aller Mandate. Es ist offen, ob sich die französische SPD von dieser Niederlage wieder erholen kann. La France Insoumise, die neue Partei von Jean-Luc Melenchon hat 17 Mandate erzielt, die KPF hat 10 Mandate errungen und ist stabil geblieben. Der Front National 8 Mandate, Marine le Pen zieht erstmals in die Assemblee ein. Die Grünen haben 1 Mandat bekommen und 16 verloren, die »Sonstigen« liegen bei 10 Mandaten, ein Plus von 6 Sitzen.

Mit der Wahl hat eine weitgehende parlamentarische Umwälzung des Parteiensystems stattgefunden. Aber nach dem Wermutstropfen, Macron wählen zu müssen, um Le Pen im Präsidialamt zu verhindern, war bei vielen die Schmerzgrenze überschritten. Die Wahlbeteiligung lag nur noch bei 43%, das heißt, 57% sind nicht zur Wahl gegangen. Das ist die geringste Wahlbeteiligung seit 1958. Sie wirft erhebliche Fragen nach der Legitimationsstärke des neuen Präsidenten und seiner parlamentarischen Mehrheit in der Gesamtgesellschaft auf.

Als erstes großes Projekt hat Macron bereits seine Arbeitsmarktreform mit einem daran gekoppelten Zeitplan vorgestellt. Er hat in den Gesprächen mit Gewerkschaften und Unternehmerverbänden gesagt, dass er die Reform auch mithilfe von Dekreten verwirklichen werde. Dies ist auch bei den gemäßigten Gewerkschaften auf Widerspruch gestoßen. Die Arbeitgeberverbände haben gejubelt. Mit der jetzigen Mehrheit kann er die Anwendung des Artikels 49(3) vermeiden. Aber reicht eine satte parlamentarische Mehrheit aus, um die, die von den Verschlechterungen am Arbeitsmarkt betroffen sein werden, von der liberalen Richtigkeit der Reformen zu überzeugen?

Mit der Frage nach der Legitimationsstärke in der Gesellschaft sind zwei Fragen aufgeworfen. Wie werden die politisch motivierte Zivilgesellschaft, speziell die Gewerkschaften, deren Organisationsgrad in den vergangenen Jahren nachgelassen hat und durch die Wahlen stark gebeutelten Parteien mit diesem Vorstoß umgehen? Sind sie nach 5 Jahren Präsidentschaft Hollande abgenervt, ermüdet und abgekämpft? Wird es der politischen Linken gelingen, sich über einen klugen Widerstand neu zu positionieren, zu vernetzen und zu revitalisieren? Wird sie in Selbstbeschäftigung und im Niederlagentrauma versinken? Wie wird der Front National versuchen, diese Situation zu instrumentalisieren?

Die zweite Frage ist erheblich brenzliger und sie entsteht aus der erneuten Verlängerung des Notzustandes durch den Präsidenten, der schon von Hollande als Reaktion auf die Anschläge des Jahres 2015 ausgerufen wurde. Wird er auf den entschiedenen Kampf gegen den Terror begrenzt bleiben? Oder wird er, wenn auch der neue Präsident sich mit seinen Reformen durch einen starken Protest auf der Straße am Rande des Scheiterns wähnt, im Zweifelsfalle durch Dekret auf die Einhegung zivilgesellschaftlicher Proteste ausgeweitet? Würde dann aus dem Präsidenten der französischen Republik Macron I.?

Doch zunächst steht für ihn Selbstbeschäftigung mit der neuen Regierung an. Sie war nach der Parlamentswahl am Wochenende traditionsgemäß zurückgetreten. Der neue Premierminister Philippe hat gleich mit drei Rücktritten zu kämpfen, die durch Skandale, Korruptionsvorwürfe und Vorermittlungen durch die Justiz begründet sind. Erst die Verteidigungsministerin, dann der Justizminister und die Europaministerin. Alle sind Vertreter der Bündnispartei MoDem. Nun wird sich die Vorstellung der neuen Regierungsmannschaft verzögern. Dabei wollte Macron doch gerade mit dieser Form der Selbstbeschäftigung der Regierung und der Politikerverdrossenheit, die daraus in der Gesellschaft resultiert, brechen.

Präsident und Regierung haben einen veritablen Fehlstart hingelegt, der – wenn man eine wohlwollende Interpretation vornimmt – möglicherweise durch den Druck der Ereignisse und die Geschwindigkeit der zu treffenden Entscheidungen entstanden ist. Dies weist auf ein weiteres Risikopotenzial in der Neubesetzung des Parlaments hin. Die Fraktion LREM besteht zu einem hohen Anteil an politischen »Novizen«, wie sie in Frankreich genannt werden. Menschen, die in ihrem Leben zwar politische Erfahrungen haben, aber noch nie ein Mandat hatten oder ein Amt ausgeübt haben. Werden sie die notwendige Geschlossenheit und Professionalität an den Tag legen, um das liberale »Reformprogramm« widerspruchslos umzusetzen?

Die politische Lage in Frankreich ist nicht so einfach, wie sie sich nach der oberflächlichen Betrachtung der Wahlergebnisse darstellt. Am 24. September wird noch der Senat, das Oberhaus, turnusmäßig zur Hälfte neu gewählt.