Der neue Artikel von Thomas Nord für den Bundestagsreport der Landesgruppe Brandenburg beschäftigt sich mit der Renaissance der Kanonenbootpolitik beim Streben nach einer neuen Weltordnung.

Kanonenbootpolitik im 21. Jahrhundert

Recht und Stärke

Die Kanonenbootpolitik war im 19. Jahrhundert ein Instrument des Imperialismus. Manchmal wird sie auch Kanonenbootdiplomatie genannt. Es handelt sich dabei um die offene und unverhohlene Androhung dessen, was folgt, wenn das Gegenüber nicht in eine erhobene Forderung einwilligt. Im ersten Teil der Mafia-Trilogie »Der Pate« spricht der Hauptdarsteller Marlon Brando den unvergessenen Satz: »Mach ihm ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann«. Wird dieses Angebot trotzdem ausgeschlagen, dann ist die Zeit für Kanonenbootpolitik.

Ein Beispiel für solche Politik ist die Anlandung des deutschen Torpedokreuzers »SMS Panther« am 1. Juli 1911 zum Kohlebunkern in Agadir (Marokko) durch persönlichen Befehl des Kaisers. Die SMS Panther war eins von sechs Kanonenbooten der Iltis-Klasse, die eigens für den Kriegseinsatz in den Überseegebieten konzipiert war. Kaiser Wilhelm II hoffte mit seinem Entsendungsbefehl auf einen politischen Prestigezuwachs. Er hoffte, einen politischen Keil in die seit 1904 bestehende Entente zwischen Paris und London treiben zu können. Beides misslang.

Der Panthersprung nach Agadir

Offiziell landete die Panther auf Verlangen der Hamburger-Marokko-Gesellschaft zum »Schutz« der deutschen Handels- und Rohstoffinteressen im Hafen von Agadir nachdem französische Truppen Fès und Rabat besetzt hatten. Politisch gesehen markiert der »Panther-Sprung«, wie die Mission damals in der Öffentlichkeit genannt wurde, den Beginn der zweiten Marokko-Krise und den Höhepunkt des Wettlaufs der zentraleuropäischen Großmächte um die imperialistische Aufteilung von Afrika.

Das Vereinte Königreich (VK) befürchtete nach der Anlandung der SMS Panther den Aufbau einer deutschen Flottenbasis in Agadir, mit dem die Seewege nach Ägypten, dem 1869 eingeweihten Suez-Kanal und dem damals unter britischer Herrschaft stehenden Indien hätten kontrolliert werden können. Dies wurde als eine weitere Eskalation im deutsch-britischen Wettrüsten gewertet. London erklärte, im Falle einer Aggression Berlins werde es an der Seite von Paris stehen. Kaiser Wilhelms Hoffnungen hatten sich zerschlagen.

Im November schlossen Frankreich und das II. Deutsche Reich das so genannte Marokko-Kongo-Abkommen. Deutschland erkannte Marokko als französisches Protektorat an und erhielt dafür die Anerkennung der europäischen Großmächte für Gebietszuwächse in Südwestafrika. Der Gewinn des Kongo-Becken aber brachte dem Kaiser im Reich vielerlei Spott ein, weil es ein Sumpfgebiet sei und aus wirtschaftlicher Perspektive völlig wertlos. Wilhelm II. stand auch in der Prestigefrage ohne neue Kleider da.

Vier Elemente der Kanonenbootpolitik

Kanonenbootpolitik hat also mindestens vier identifizierbare Elemente. 1. Die Absicht, die eigene politische und wirtschaftliche Stellung aufzuwerten; 2. Die politische und wirtschaftliche Stellung des oder der Anderen abzuwerten; 3. Beides auf dem Rücken von Anderen, Regional- bzw. Lokalmächten zu tun; 4. Diese werden dadurch zu politischen Objekte und Kriegsschauplätzen reduziert, auf denen die Großmächte ihre Kämpfe um Prestige und Interessen unter Androhung bzw. Anwendung militärischer Gewalt austragen. Die Gewinnerin hat ihren Einflussbereich erweitert.

Nach zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg haben sich die Weltordnung und die politischen Kräfteverhältnisse massiv verändert. Der Nukleus der geopolitischen Auseinandersetzungen um die Anerkennung der Kräfteverhältnisse in einer neuen Weltordnung hat sich von Afrika in den Nahen Osten verschoben. Einhundert Jahre nach der Abdankung des Kaisers steht die Abkürzung »SMS« nicht mehr für »Seiner Majestät Schiff«, sondern für »Short Message System«. Und auch dies ist schon wieder ein veralteter technischer Kommunikationsstandard. Die Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, dass es heute wie vor hundert Jahren keine anerkannte globale Machthierarchie gibt. Die neoliberale Offensive, die nach 1989 einsetzte, hat ihren Zenit lange überschritten. Die Vorstellung einer Globalisierung auf der Grundlage eines liberalen westlichen Modells ist in den Niederlagen in Irak und Afghanistan gescheitert.

Das Streben nach einer neuen Weltordnung

Die Vereinten Nationen sind eine zahnlose Organisation, sie spiegeln die Verhältnisse nach 1945 wieder. Die G20 sind ein symbolisches Schaulaufen mit massivem Sicherheitsaufwand und rausgeschmissenes Geld. Die G8 tagen nach dem Rausschmiss Russlands wieder im Format G7, das 1975 von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt begründet wurde. Es ist die Wiederschau der Westmächte aus den Zeiten des Kalten Krieges von 1945 bis 1991. Die EU durchlebt die größte Krise seit ihrer Gründung, ein Zerfall kann nicht ausgeschlossen werden. Wenn heute von einer Wiederkehr des Kalten Kriegs die Rede ist, dann ist damit auch die Sehnsucht verbunden, aus einer weitgehenden Weltunordnung, die auch als G0 (G-Null) bezeichnet wird, wenigstens wieder eine G2-Welt zu machen. Das heißt im Rückblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Welt mit den gegensätzlichen Polen Washington und Moskau. Angesichts der vielen anderen Akteure, die globalen Machtanspruch erheben, wird dies nicht funktionieren.

Russland hat den USA in der Übergangszeit der Präsidentschaft von Obama zu Trump die Führungsrolle im Nahen Osten abgenommen. Der Iran will seine Position in Syrien und seine Machtstellung in der Region gegen Saudi-Arabien ausbauen. Die Türkei träumt von einer Widerkehr ihrer politische Größe vor dem ersten Weltkrieg, sie will freie Hand, um weiter militärisch gegen die Kurdenmiliz YPG vorzugehen und würde gerne Teile Syriens an die Türkei angliedern nach dem Vorbild Russlands in Georgien 2008. Anfang April setzten Putin, Rohani und Erdogan eine Reihe von Treffen fort und präsentierten sich bei einem Fototermin als diejenigen Mächte, die durch die Erfolge der vergangenen Monate exklusiv über die Zukunft Syriens entscheiden können. Dies konnte seitens des Westens, vor allem den USA und den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien als eine Art »Panthersprung« interpretiert werden, eine provokative Ansage: »Wir sind drin, ihr seid draußen«. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Die West-Koalition der Willigen

Donald J. Trump, Theresa May und Emmanuel Macron haben auch aus ihren innenpolitischen Bedrängungen heraus mit dem erneuten Giftgasangriff in Syrien eine willkommene Möglichkeit gesehen, drängende innenpolitische Themen durch außenpolitische Profilierung temporär zu marginalisieren. Trump muss den Verlust der republikanischen Senatsmehrheit in den Midterm-Elections im November an die Demokraten befürchten. Denn die Initiative eines Impeachments gegen den Präsidenten – einerlei ob wegen dem Vorwurf der illegalen Wahlkampfunterstützung durch Russland oder Sex-Affären mit einer Pornodarstellerin – liegt ausschließlich beim Senat. Theresa May gilt seit der verlorenen Wahl am 8. Juni 2017 als schwache Ministerpräsidentin und steht im Brexit-Verfahren vor Abstimmungen, die das Ende ihrer Amtszeit bedeuten können. Emmanuel Macron hat wegen sozialpolitischen Schlechterstellungen von Arbeitnehmer*innen starken innenpolitischen Gegenwind, mit seinem Vorstoß zu einer repressiven Asylreform ist sein Mehrheitslager das erste Mal inhaltlich gespalten. 100 der Abgeordneten von »La Republique En Marche« sind der Abstimmung im Parlament ferngeblieben, 14 haben sich enthalten und einer hat dagegen gestimmt.

Außenpolitisch hatte der als Vergeltungsaktion für den Giftgasangriff in Duma etikettierte militärische Eingriff am 14. April 2018 in Syrien die Funktion, die Kernmächte des Westens wieder ins geopolitische Spiel zurück zu bringen. Die Nachricht: »Wir sind noch da«. Nun stehen zwei Bilder gegeneinander, Putin, Rohani und Erdogan einerseits und Trump, May und Macron andererseits. So ist es kein Wunder, dass der amerikanische Präsident in dieser Woche dem französischen Präsident einen dreitägigen opulenten Empfang widmet, der deutschen Bundeskanzlerin am Freitag nur einen nüchternen Arbeitsempfang. Trump verwies darauf, dass Frankreich und USA noch nie Krieg gegeneinander geführt haben und Frankreich den USA im Unabhängigkeitskrieg gegen das Empire beigestanden habe. Beide pflanzten im Garten des Weißen Hauses eine Steineiche, die Macron aus einem Wald in Aisne mitgebracht hatte. Dort waren Anfang Juni 1918 bei dem Zurückschlagen des »Blücher und Yorck Angriffs« über 10.000 US-Soldaten gefallen.

Innereuropäische Zerwürfnisse im transatlantischen Verhältnis

Dies zeigt auch die innereuropäische Verschiebung im transatlantischen Verhältnis zwischen Berlin, Paris und London. Nach fünf Jahren Hollande ist Frankreich unter Macron wieder wer in der Welt. Dies ist für Paris das zentrale nationalpatriotische Prestigeargument. Nachdem die Regierung in Berlin Macron seit einem halben Jahr wegen seinen europapolitischen Vorschlägen zappeln lässt, treten die Verwerfungen im deutsch-französischen Motor immer klarer hervor. Trotz dessen gerade eine europäische militärische Zusammenarbeit beschlossen wurde, tritt Paris als alleinig in der EU verbleibende Atommacht einen Schritt aus dieser Bindung heraus und wertet sich als zentraler und ältester Verbündeter gegenüber Trumps Washington auf. Die USA haben Frankreich zwei Mal bei der Befreiung von deutscher Besatzung geholfen.

Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) hat erst am 21. April, eine Woche nach den US-amerikanischen, französischen und britischen »Luftschlägen« gegen das Regime Assad in Duma Bodenproben genommen, die nun in den Niederlanden untersucht werden. Der Beleg des Vorwurfs, Assad habe den Giftgasangriff durchgeführt, wird erst nach der Vollstreckung des Urteils begonnen. Dies kräftigt den a) Vorwurf der innenpolitisch motivierten Ablenkungsaktion und zeigt b) eine nicht rechtsförmige globale Machtdemonstration, in der die Unschuldsvermutung keine Rolle spielt. Ein Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages kommt in der Abwägung zwischen völkerrechtlicher Legalität und politisch-moralischer Legitimität zu dem Ergebnis, dass eine mögliche moralische Legitimität den Rechtsbruch nicht rechtfertigen kann. Die alliierten Luftangriffe vom 14. April stellen sich im Ergebnis, so heißt es in dem Gutachten „als unverhohlene Rückkehr zu einer Form der bewaffneten Repressalie im humanitären Gewand dar“. [Sachstand „Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien“, Wissenschaftliche Dienste, WD 2-3000-048/18, S. 10]

Wiederkehr der Prestigekämpfe

Auch im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts sind die vier Elemente der Kanonenbootpolitik sichtbar. Es gibt ein offenes Ringen um eine neue Weltordnung, um Ausdehnung von politischen und wirtschaftlichen Einflusszonen, um Prestige, um eigene Aufwertung bzw. Abwertung des Anderen. In Kooperation mit jeweils auf einer Seite sekundierenden Regionalmächten tragen die Globalmächte dies auf dem Boden einer dritten Lokalmacht aus, die Gegenstand und Schauplatz lang anhaltender und zumeist unerklärter Kriege wird.

In Syrien ist im arabischen Frühling seit 2011 aus Demonstrationen ein Bürgerkrieg geworden. Machthaber Assad und sein Regime konnten in dem Krieg ihre Stellung nur durch die Schutzmächte Russland, Iran und Türkei erhalten und sind heute vollständig von ihnen abhängig. Die herausfordernden Bürgerkriegsparteien sind ohne den materiellen und logistischen Zufluss der sie unterstützenden Mächte nicht kampffähig. Wie in der Ukraine steht der unwiderlegte Vorwurf an den Westen, mit der Unterstützung der Rebellen seit 2011 einen »Regime-Change« zu verfolgen, um seinen Einfluss zu erhöhen. Als viertes Element sind die Gesellschaft und ihre Interessen für alle am Krieg beteiligten Gruppen irrelevant. Im Jahr 2015 waren bereits drei Millionen Syrer*innen aus dem Kriegsgebiet geflohen.

Für Kanonenbootpolitik ist die Aktualität der Technik die entscheidende Frage. Sie ist die eigentliche Garantie der Macht, die den Erfolg garantiert. Im Jahr 1911 die Schiffe der Iltis-Klasse. Im Jahr 2018 Flugzeugträger, satellitengestützte Aufklärung, Cyber-Angriffe, Marschflugkörper, Jagdbomber, Drohnen, Spezialkräfte. Auch die schwarz-rote Bundesregierung drängt aktuell auf eine massive Erneuerung und Innovation der Ausrüstung der Streitkräfte, die permanent als in einem schlechten Zustand beschrieben wird. Noch in dieser Woche will sie ein 500-Millionen-Euro Paket auf den Weg bringen, um vier israelische Drohnen vom Typ Heron anzuschaffen. Es ist zu befürchten, dass in den sich abzeichnenden Absetzungserscheinungen die friedenspolitischen Lehren aus zwei Weltkriegen in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik zur Disposition geraten.

Egal von wem: Bomben schaffen keinen Frieden

DIE LINKE ist aus ihrem parteipolitischen Selbstverständnis eine antiimperialistische und antimilitaristische Partei. Sie hat keinen Grund und keine Veranlassung, in ihrer Kritik auf einem Auge blind zu sein. Die USA sind ein imperialer Akteur mit weltpolitischem Geltungsanspruch, der sich oft in Koalitionen der Willigen nicht an das Völkerrecht hält und damit Zerstörung und Leid verursacht. Russland hat sich seit der Präsidentschaft Putins von den Folgen des Zerfalls der Sowjetunion erholt und ist eine imperiale Macht mit globalem Geltungsanspruch. Das heutige Russland und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten sind nicht die Wiederkehr der 1991 zerfallenen Union der sozialistischen Räterepubliken. Es ist keine klassenkämpferische Schutzmacht der Arbeiter und Bauern. Es ist auch nicht links. Wer das glaubt, hängt einer nostalgischen Sichtweise an, die die weltweite Niederlage der Linken im Kalten Krieg und ihre Folgen seit dreißig Jahren verdrängt.

DIE LINKE tut gut daran, sich nicht einseitig in die erweiterte Peripherie eines imperialen Machtzentrums zu stellen. Sie sollte stattdessen endlich auch in ihren nostalgischen Gliederungen die eigene Niederlage von 89/91 selbstkritisch anerkennen, reflektieren und in der Gegenwart ankommen. Es ist doch befremdlich, wenn einerseits ein Bombardement Russlands bejubelt wird wie die Oktoberrevolution von 1917, weil sich Putin in Syrien oder sonst wo im Nahen Osten an den Verhandlungstisch zurückbombt und andererseits ein Bombardement der USA und seiner Koalition der Willigen aufs schärfste kritisiert wird, weil es ein Bruch des Völkerrechts ist und ein barbarischer kapitalistischer und neoliberaler Akt. Egal, von wem sie abgeschmissen werden. Bomben schaffen keinen Frieden, sie haben Tod, Zerstörung, Gegenreaktion und Terror zur Folge. Sie verdrängen die Ordnung des Rechts durch eine Herrschaft der Stärke. Wie sagte Lenin in seinem 1917 erstmals veröffentlichten Buch über den Imperialismus als die höchste Stufe des Kapitalismus: Das Kräfteverhältnis zwischen imperialistischen Mächten kann nicht auf Dauer stabil sein. Die Zeiten des Friedens sind unter diesen Bedingungen nur Atempausen zwischen den Kriegen.