In einer Vorausschau auf die Europawahl 2019 und ihre Folgen wagt Thomas Nord einen Blick in die Glaskugel:

Wahlen zum Europäischen Parlament 2019

Que Sera Sera, was wird sein nächstes Jahr?

 

Derweil sich die einen Hoffnung gemacht haben, haben die anderen schon laut Bella Ciao gesungen. Die dritten hingegen haben in Wiederverherrlichung von Benito Mussolini für einen neuen Marsch auf Rom die Hemden schon einmal schwarz gefärbt. Jeden Tag gab es eine neue Lage. Aber am Ende stand dann doch eine Regierung in Italien. Gerade mal einen Tag, bevor in Spanien Ministerpräsident Mariano Rajoy über ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt wurde. Er trat kurz darauf auch als Parteivorsitzender der Partido Popular (PP) zurück. Der neue Ministerpräsident Pedro Sanchez von der Sozialdemokratischen Partei (PSOE) verfügt über 85 Mandate und hat bei Übernahme der Regierungsgeschäfte vorgezogene Neuwahlen bestätigt, ohne jedoch einen konkreten Termin zu nennen.

Nicht von ungefähr kommen in der aktuellen politischen Diskussion über die Zukunft der EU Erinnerungen an die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf. Damals gab es nach dem Ende des ersten Weltkriegs eine Finanz- und Wirtschaftskrise, in Folge dessen traten zunehmend soziale und wirtschaftliche Probleme beim »kleinen« Mann auf. Die Parteienlandschaften gerieten in starke Bewegung. Es gab häufig wechselnde Kabinette, schwierige und sich hinziehende Regierungsbildungen durch Mehrparteienbündnisse. Viel Hin und Her in den Verhandlungen. Und häufige Neuwahlen, weil die Bündnisse nicht lange hielten. Manchmal schien die Gelegenheit günstig, um in Neuwahlen ein besseres Ergebnis zu bekommen. Manchmal schlicht und einfach, weil neue Parteien oftmals frischen Wind mitbringen, aber genauso oft wenig oder keine politischen Erfahrungen.

Demokratien werden nicht mehr gestürzt, sondern reformiert

Damals waren die noch jungen Demokratien, die nach dem I. Weltkrieg errichtet wurden, über ein Jahrzehnt lang zunehmend starken Zerreißproben ausgesetzt. Die demokratischen Toleranzen waren gering, der Anspruch auf einen politischen Sieg über den Anderen groß. Auch aus diesem Grund konnte die Sehnsucht nach der verlorenen Ordnung einen so starken Raum einnehmen, dass Bewegungen erfolgreich waren, die die Demokratie stürzen und die nach dem Kriege untergegangenen Reiche erneuern wollten. Auf die europäischen Demokratien folgten Herrschaftssysteme, die nach innen unterdrückt haben, nach außen aggressiv expandiert. Erst nach einem erneut verheerenden Weltkrieg kam es zu einer europäischen Neuordnung und zur institutionellen Erneuerung der Demokratie.

Wenn wir auf die Wahlergebnisse der letzten Jahre in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schauen, finden wir viele der beschriebenen Elemente wieder. Umbrüche in den Parteienlandschaften. Schwierige und langwierige Regierungsbildungen. Häufige Neuwahlen. Unruhe und Nervosität. Befeuerung von Ordnungssehnsucht. Entwicklung von äußeren und inneren Bedrohungsszenarien. Deliberalisierung und anhaltende Rückkehr zu autoritären Systemen. Doch während am Beginn des letzten Jahrhunderts die Demokratien z.B. mit einem Staatsstreich oder einem Ermächtigungsgesetz gestürzt wurden, werden sie heute, wo Jahrzehnte lange Regierungserfahrungen vorliegen, nicht gestürzt, sondern nach und nach in unterschiedlichen Politikfeldern wegreformiert. Die Justiz wird parteipolitisch dominiert. Die Exekutive wird einseitig mit loyalen Parteigängern besetzt. Wahlgesetzreformen sollen dauerhaft Mehrheiten sichern. Die unabhängige Presse wird an die Kette gelegt.

Die Union steht auf tönernen Füßen

Es ist heute ein Allgemeinplatz zu behaupten, dass die Europäische Union auf tönernen Füßen steht. Aus institutioneller Perspektive markiert die Wahl des Europäischen Parlaments vom 23.-26. Mai des kommenden Jahres den Beginn der Neubesetzung der Institutionen auf EU-Ebene für die Wahlperiode 19 bis 24. Seit dem Satz des bald scheidenden EZB-Präsidenten Mario Draghi: »Whatever it takes«, Was immer es kostet, den Euro zu retten, er wird es tun, ist die Wiederbesetzung der politischen Europäischen Institutionen nach der EP-Wahl das entscheidende Nadelöhr für den Fortbestand der Union im nächsten Jahrfünft geworden. Die Amtszeit von Draghi endet im Oktober 2019, mit Jens Weidmann wird derzeit ein Präsident der Deutschen Bundesbank als sein Nachfolger gehandelt.

Auf Grund der Wahlergebnisse in den Mitgliedsstaaten seit 2014 ist für das Ergebnis der EP-Wahl eine starke Veränderung der Kräfteverhältnisse zu erwarten: Die Konservativen sind in einer Zerreißprobe, sie stehen im Spagat zwischen modernem Konservatismus und autoritärem Paternalismus. Immer noch ist die ungarische Fidesz Mitglied der EVP. Auch durch die Schwäche der Sozialdemokraten in der EU ist die Frage berechtigt, ob es nach den Wahlen zur Wiederholung einer schwarz-roten Mehrheit reicht? Dem Vernehmen nach ist bis heute unklar, welcher Fraktion sich Emmanuel Macron im EP anschließen wird. Kommt es nach der Wahl zu Neubildungen von Fraktionen im Europäischen Parlament? Angesichts der sehr wahrscheinlichen Stärkung der nationalreaktionären Kräfte kann die Sorge darüber mit einem Verweis auf deren Zerstrittenheit abgetan werden. Doch eine gemeinsame Fraktion im EP, deren Ziel es ist, Artikel 1 der Lissabonner Verträge (EUV) zu »einer immer engeren Union« zu kippen, ist durchaus möglich.

Patriotischer Frühling in Europa?

Mit einem Rückblick auf das europäische Wahljahr 2017 hatten die nationalreaktionären Kräfte einen patriotischen Frühling ausgerufen. In den Niederlanden wurde Geert Wilders aus der Regierung gehalten. Es hat sieben Monate gedauert. In Österreich wurde Norbert Hofer aus dem Präsidentenamt gehalten. Nach einer Klage gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl und einer rechtlich angeordneten Wahlwiederholung nach 11 Monaten. Aber im Ergebnis der Nationalratswahlen ist die FPÖ heute Teil der Regierung in Wien. In Frankreich hat Emmanuel Macron mit einer neuen Bewegung Marine le Pen aus dem Elysee Palast herausgehalten. Der Preis dafür war die Zertrümmerung der Parti Socialiste und die Marginalisierung der Konservativen.

In Deutschland ist die AfD in etliche Landesparlamente und mit 12,6% in den Bundestag eingezogen. Die Bildung einer Regierung hat sechs Monate gedauert. Knapp ein Jahr vor der Wahl zum Europäischen Parlament ist deshalb die Frage zu stellen, ob die nationalreaktionären Kräfte auch zur Europawahl ihre Wahlkampfaktivitäten bündeln oder ihre Kampagnen in einzelnen Elementen teils aufeinander abstimmen? Durch den Eintritt der FPÖ in die Regierung in Wien und den Eintritt von Lega und Fünf Sterne in Spanien haben sie prominente Positionen erobert und ihnen stehen mehr Möglichkeiten der Inszenierung offen. Gibt es im Vorfeld der EP-Wahl 2019 eine Neuauflage der Kampagne Patriotischer Frühling 2017?

Die Linke braucht einen europäischen Schulterschluss

Die Grünen haben in den Ländern sehr unterschiedlich abgeschnitten, teils sind sie stärker geworden, teils sind sie nahezu in Bedeutungslosigkeit versunken. Bei den linken, aus sozialistischen Parteien kommenden ist es etwas besser. Aber auch sie sind in manchen nationalen Parlamenten nicht mehr vertreten. Und nehmen hinsichtlich der Europäischen Union eine Bandbreite von moderat zustimmend über kritisch bis vollständig ablehnende Positionen ein. Nach einem gescheiterten Antrag zum Ausschluss einer Partei aus der Europäischen Linken hat Gregor Gysi angesichts der Gesamtlage zur Geschlossenheit aufgerufen und zum entschiedenen Kampf gegen die neoliberalen Kräfte, die die EU zu zerstören suchen.

Nicht nur die Frage der Mehrheitsbildung im Parlament dürfte Nervosität im Vorfeld der Wahlen erzeugen. Im Europäischen Rat haben seit 2014 die Regierungsvorsitze von Polen gewechselt, von Österreich, Frankreich, Slowakei, Tschechien, Italien und Spanien. Das Vorpreschen gegen Rajoy war ein taktisch kluger Zug von Pedro Sanchez, der nun die Regierung in Madrid führt und die Zügel für Neuwahlen in der Hand hält. Die nächsten regulären Wahlen wären 2020, er wird versucht sein, die Neuwahlen hinter die Wahlen zum Europäischen Parlament zu legen. Denn wie die Kräfteverhältnisse in Madrid nach Neuwahlen aussehen, ist völlig offen, die Parteienzustimmung in starker Bewegung. Können Podemos und Cuidadanos als neue, teils sehr konträre Parteien wie Lega und Fünf Sterne in Italien eine Regierung bilden? Die Souveränitätsfrage von Katalonien ist nicht geklärt.

Burn-Out der Bundesregierung

Durch die Wechsel im Rat haben sich dort die Kräfteverhältnisse entlang der aktuellen Krisen und ihrer Wahlreaktionen in den jeweiligen Nationalstaaten verschoben. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs sind die liberalen Kräfte in der EU geschwächt. Die Folgen der Wirtschafts- und Währungskrise haben die Vorstellung eines »Latin-Empires« von Frankreich, Italien und Spanien gegen die ökonomische und finanzielle Dominanz Deutschlands wiederbelebt. Seit der Flüchtlingskrise und ihren politischen Folgeerscheinungen in den Wahlen ist die »Visegrad-Gruppe« aus Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei näher an Österreich und nun auch an Italien gerückt.

Auch im Ergebnis der Wahlergebnisse in 2017 ist die Bundeskanzlerin geschwächt und kann keine EU-politische Initiative mehr ergreifen. Die gesamte Bundesregierung scheint unter Burn-Out zu leiden. Die politische Initiative steht bei Politstars wie Macron und Kurz, der zuletzt erst vom neuen US-Rabauken in Deutschland, Richard Grenell, für seine starke Rechtsaußen Überzeugung als Rockstar gelobt wurde. Grenell will sich entgegen den diplomatischen Gepflogenheiten in die innereuropäischen und innerdeutschen politischen Kämpfe einmischen und die Rechtsaußen Kräfte in Deutschland und der EU stärken. Er hat in einem Interview mit Breitbart News darauf verwiesen, dass auch Steve Bannon, der geschasste Berater von Donald Trump, beim Zustandekommen der Koalition in Italien im Hintergrund mitgewirkt habe.

Kleine Bundestagswahl in Ostdeutschland

Die »Mein-Land-Zuerst« Regierungen schlagen im jeweiligen Mitgliedsland politische Kurse ein, mit der sie die Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten vergrößern. Sie haben bei der nächstes Jahr anstehenden Neubesetzung der EU-Kommission das personelle Vorschlagsrecht. Wenn sich der Rat als Ganzes einig ist, muss der Vorschlag vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Es war schon 2014 ein schwieriger Prozess, der mit einem Kuhhandel Juncker auf den Kutschbock der Kommission gebracht hat und für das EP die Regelung: Martin Schulz die eine, die EVP die andere Hälfte als Präsident. Deswegen ist Antonio Tajani von Berlusconis Forza Italia heute Parlamentspräsident. Wen werden also Polen, Ungarn, Österreich und Italien als Kommissare vorschlagen, um nur auf die Staaten mit den aus linker Sicht höchstproblematischen Regierungen zu schauen?

Kommt es zwischen Staaten und dem Parlament zu einer Reaktion à la Matarella in der Ablehnung von Kandidaten, wird dies die politischen Befindlichkeiten innerhalb der EU stärken. Setzt sich Sebastian Kurz aus Österreich während der am 1. Juli beginnenden österreichischen Ratspräsidentschaft mit seinem Vorschlag einer drastischen Verkleinerung der Kommission durch, wird es Staaten geben, die ab 2019 nicht mehr vertreten sind. Die neue Kommission nimmt für gewöhnlich am 1. November ihre Arbeit auf. Aus deutscher Sicht erstreckt sich die Findung und Neukonstituierung der Europäischen Institutionen über den Zeitraum, in dem in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Landtagswahlkämpfe ausgetragen werden. Die Ergebnisse der kleinen Bundestagswahl in Ostdeutschland markieren den Übergang in die zweite Hälfte der Schwarz-Roten Regierungsperiode in Berlin.