Eine Woche nach der Europawahl sind nicht nur die Parteien der Bundesregierung mit sich selbst beschäftigt. In zwei Wochen tagt der Europäische Rat.

Vor dem Juni-Gipfel

Wahlnachlese in Brüssel

Eine Woche nach der Europawahl ist in Deutschland die Selbstbeschäftigung mit der instabilen Lage der Bundesregierung so groß, dass kaum mehr die Nachrichten über den erratischen US-Präsidenten Donald J. Trump durchdringen. Aber die Instabilität resultiert nicht aus dem Dissens zwischen den Regierungsparteien wie noch 2016 und 2017, sondern aus dem Streit in den Parteien über die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Europa-, Kommunal- und Landtagswahl vom 26. Mai.

Zusammen liegen Union und SPD derzeit bei rund 45%. Die zweitägige Sonderklausur der CDU zur Lage der Partei ist durch den Rücktritt der SPD Partei- und Fraktionsvorsitzenden in der Nachberichterstattung vollständig hinten runter gefallen. Doch nicht nur die Parteien der Bundesregierung sind mit sich selbst beschäftigt.

Unruhige Lage in den Hauptstädten

In Österreich ist die innenpolitische Situation nach dem Ibiza-Video über die politische Verkommenheit von Hans-Christian Strache aufgeheizt. Nach dem Sturz von Kanzler Sebastian Kurz durch ein gemeinsames Abstimmen von SPÖ und FPÖ sind für September Neuwahlen angekündigt. Strache, der den Skandal ausgelöst hatte, hat derweil in der Europawahl ein Mandat in Straßburg gewonnen.

Im Vereinigten Königreich läuft sich Boris Johnson für den Parteivorsitz bei den Tories warm. Es wird ein kompliziertes Auswahlverfahren geben, in der letzten Juliwoche soll der Gewinner feststehen. Der Sieger oder die Siegerin zieht nach bisherigen Regeln auch in Downingstreet 10 ein und darf die Brexit-Verhandlungen weiterführen.

Nach einem desaströsen Ergebnis für die Konservativen in Frankreich ist deren Parteivorsitzender zurückgetreten. Gespräche über die Auflösung der Partei von Nikolas Sarkozy hallen über die Flure. Die Parteien von Macron und von Le Pen singen Lockrufe wie die Sirenen an Odysseus. Die Konservativen fürchten sich vor den Kommunalwahlen 2020.

In Italien hat sich der unparteiische Ministerpräsident Guiseppe Conte mit einer Rücktrittsdrohung hörbar gemacht. Wenn sich die Koalition nicht besser benähme, so seine Androhung, würde er den Rücktritt einreichen und den Regierungsauftrag an den Staatspräsidenten zurückgeben.

Parallelwährung in Rom?

Darüber freut sich Matteo Salvini von der Lega, denn er möchte selber das Amt des Ministerpräsidenten ergreifen. Dann könnte er neben dem neuen Premierminister aus dem Vereinigten Königreich im Europäischen Rat sitzen und z.B. Pläne einer Parallelwährung zum Euro in Italien umsetzen. In der Einführung von Mini-Bots werden erste Ansätze dazu gesehen. Das nun angekündigte Defizitverfahren aus Brüssel gegen die Haushaltsführung der Lega-Fünf Sterne-Regierung hat das Potenzial, den Streit erheblich anzuheizen.

Die Partei der Fünf Sterne des Komikers Guiseppe Grillo ist im starken Fall. Sein Nachfolger Luigi di Maio macht auf Plakaten etwas her, aber politisch dringt er ebenso wenig durch die die Ministerpräsident Conte. Die Bewegung nimmt wie so viele andere zuvor den Verlauf einer Feuerwerksrakete. Mit Getöse steil in den Himmel und ohne Funkensprühen wieder auf den Boden. Nach den Niederlagen für Syriza in Griechenland hat Alexis Tsipras für Anfang Juli vorgezogene Neuwahlen angekündigt.

In Belgien stehen nach den Neuwahlen wieder lange und schwierige Koalitionsverhandlungen bevor. Die flämische Separatistenparteien N-VA und der Vlaamse Belang haben zusammen 43 von 150 Mandaten. Eine Regierung ohne die beiden Parteien müsste sechs oder sieben Fraktionen aufeinander vereinen. Es wird auf eine lange Zeit der Regierungsbildung herauslaufen.

Auch Spanien hat nach den Wahlen vom 28. April trotz des guten Abschneidens der PSOE noch keine neue Regierung. Durch den Einzug von Vox, die nach Methode von Donald Trump eine Mauer zu Marokko fordert, die Marokko eben auch bezahlen soll, ist die Situation in Madrid noch schwieriger geworden. Die Neuwahlen waren notwendig gewesen, weil die vorherige Regierung unter Einbindung baskischer und katalonischer Separatistenparteien keinen Haushalt abstimmen konnte.

Brexit oder EU-Kommissar

Auf europäischer Ebene steht als nächster Schritt die Konstituierung des Parlaments an, es wird aller Voraussicht nach Anfang Juli das erste Mal zusammentreten. Auch die Wahl des Rats- und des Kommissionspräsidenten und die Wahl des EZB-Präsidenten stehen zum Jahresende bevor. Während das Parlament in Kürze zusammentreten und sich konstituieren muss, hat die Zusammensetzung und Arbeitsaufnahme der Kommission bis zum 1. November Zeit.

Deshalb ist der aktuelle Termin für den Brexit auf den 31. Oktober gelegt. Wenn die Leaver auch bis dahin keine Mehrheit im Unterhaus zustande bekommen und niemand den ungeregelten Brexit unterstützt, könnte es darauf hinauslaufen, dass das UK doch irgendwie einen EU-Kommissar stellen muss oder darf. Vielleicht kriegt der das Aufgabengebiet für die Artikel 49 und 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und würde Beitritts- und Austrittskommissar.

Auf einem ersten kurzen Treffen nach der Wahl wurde vereinbart, dass Donald Tusk ein personelles Komplettpaket aushandeln soll, in dem sämtliche Proporze und Begehrlichkeiten berücksichtigt sein sollen. Irgendwie gehören die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen auch mit hinein, obwohl sie sachlich nichts damit zu tun haben. Auf dem Ratsgipfel am 20. und 21. Juni soll über den Paketvorschlag diskutiert werden. Im Moment werden drei Namen für das Amt des Kommissionspräsidenten gehandelt. Da ist Manfred Weber von der CSU, der aber nicht einmal die Fraktion der EVP geschlossen hinter sich hat. Insbesondere Victor Orban von der Fidesz hat sich gegen seine Wahl ausgesprochen.

Juni-Gipfel in Brüssel

Am Donnerstag, den 6. Juni hat die Kanzlerin in einer Sondersitzung des EU-Ausschusses über den aktuellen Gesprächsstand informiert. Michel Barnier, Franzose und Chefunterhändler der EU für den Brexit hat Ambitionen auf den Kommissionsvorsitz und die aus Dänemark stammende Margarethe Vestager, bisher Wettbewerbskommissarin und Mitglied der liberalen ALDE strebt nach dem Amt. Der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker traut es beiden zu, aber man weiß nicht so recht, ob das ihre Chancen erhöht oder reduziert.

Für Frankreichs Präsidenten Macron würden sowohl Barnier und Vestager kurze Wege und größeren Einfluss bedeuten. Barnier ist Franzose und En Marche ebenfalls Mitglied in der ALDE-Fraktion. In dem Kampf um den Kommissionsvorsitz spiegelt sich auch der angestaute Zwist zwischen Deutschland und Frankreich. Durch die ausweichende Antwort Merkels auf die französischen EU-Reformvorschläge vom Juli 2017 wird das Verhältnis Paris-Berlin heute nicht mehr als eine Achse, sondern als ein Differenzialgetriebe beschrieben.

Das dürfte die Abstimmung über die strategische Agenda der Jahre 2019 bis 2024 nicht einfacher machen. Die weitere Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, Forschung und Innovation auf ökologische, soziale und wirtschaftliche Fragen zu orientieren wären durchaus sinnvolle Punkte. Auch die konsequente EU-weite Ausrichtung von Produktion, Distribution und Verbrauch auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung ist aus linker Sicht sinnvoll.