In seinem jetzigen Zustand kann man Ungarn kaum mehr einen demokratischen Staat nennen. Dies kann nicht ohne Konsequenzen auf der Europäischen Ebene bleiben.

Undemokratisches Ungarn

Seuche als Vorwand

 

Was dem Einen als Bedrohung erscheint, mit der man umsichtig, gewissenhaft und abwehrend umgehen muss, erscheint dem Anderen als eine willkommene Gelegenheit, die Prozesse beschleunigt und tiefgreifender fortzusetzen, von denen man schon immer einmal geträumt hat. Zum Beispiel: Nicht Regierungsvorsitzender, sondern Machthaber zu sein. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) ist so ein Beispiel.

Seit seinem zweiten Amtsantritt vor zehn Jahren baut er das ungarische Institutionensystem systematisch von einer repräsentativen Demokratie zunächst zu einer illiberalen Demokratie und nun zu einem autoritären Machtsystem um. Anhand der immer noch durchgeführten Wahlen wird aber klar, dass dieser Kurs eine starke Unterstützung in der Bevölkerung hat. Dies liegt sicherlich auch daran, das Orban sich erfolgreich als ein Vertreter der kleinen Leute darstellen kann. Seine Regierung ließ die Steuern und die Strom-, Gas- sowie Wohnbetriebskosten senken. Es wurden Kinder- und Familienhilfen eingeführt. Mit Fremdwährungskrediten verschuldete Ungarn konnten sich durch ein Umschuldungsprogramm zulasten ausländischer Banken entlasten. Ausländische Unternehmen zahlen in Ungarn Sondersteuern.

Andererseits hat die Einführung eines einheitlichen Satzes für Einkommensteuern von 16% und später 15% den reichsten 10% ein zusätzliches Einkommen von 1,6 Milliarden Euro beschert. Menschen mit kleineren Einkommen hingegen mussten umgerechnet circa 650 Millionen Euro mehr an den Staat bezahlen. Das Sozialhilfeprogramm ist an eine Arbeitspflicht gebunden, wobei die Behörden, in den Kommunen sind dies die Bürgermeister, die Leute landesweit nach Gusto einsetzen können. Auch können die Behörden bei Menschen, die Sozialhilfe bekommen, die hygienischen Bedingungen in den Wohnungen kontrollieren und bewerten, ob sie aufgeräumt sind. Für die Wirtschaft insgesamt wird gesagt, dass auch die kleineren und mittleren Unternehmen immer mehr in die Hände von Oligarchen gehen, die loyal zur Politik von Orban stehen.

Eine Kritik gegen diese Verfahrensweisen werden oft unter dem Hinweis auf ausländische Machenschaften zum Schaden von Ungarn oder auch persönlich dem Handeln des Finanzmilliardärs George Soros und seiner Open-Society-Foundation (OSF) zugeschrieben. Soros bietet sich gewissermaßen als bekennender Schüler des liberalen Karl Raimund Popper, als Finanzinvestor und als Mensch jüdischer Abstammung in einer dreifachen Kombination als Zielscheibe an. Auf Grund der repressiven und antisemitischen Politik von Fidesz und Jobbik, der Schließung einer »Soros-Universität« ist die Open-Society-Foundation 2018 von Budapest nach Berlin umgezogen.

Im September 2018 hat das Europäische Parlament gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags den Rat aufgefordert zu überprüfen, ob Ungarn in der Gefahr ist, die Grundwerte der Europäischen Union zu verletzen. Die Parlamentarier monierten den Zustand der Unabhängigkeit der Justiz, der Meinungsfreiheit, ein hohes Maß an Korruption, die Nicht-Achtung von Minderheitenrechten und insbesondere die Situation von Migranten und Flüchtlingen in Ungarn. Die EU-Minister haben im September und im Dezember 2019 zwei Anhörungen mit der ungarischen Regierung abgehalten. Seitens der EP-Abgeordneten wurde wiederholt der Anspruch vorgetragen, formell in diese Anhörungen einbezogen zu werden. Stellt der Europäische Rat Verstöße nach Artikel 7 fest, kann er Ungarn das Stimmrecht im Rat entziehen, was praktisch einer Suspendierung gleichkommt.

Anlässlich der Corona-Pandemie hat Orbán Ende März einen zeitlich unbegrenzten Notstandsbeschluss mit seiner Regierungsmehrheit durch das Parlament gebracht. Dieser Beschluss suspendiert das Parlament auf ebenso unbegrenzte Zeit und erlaubt es Orbán per Dekret nach eigenem Ermessen und ohne jegliche Form der Kontrolle Herrschaftsmacht auszuüben. Der Ausnahmezustand vom 11. März kann nun im Alleingang von Orban unbegrenzt verlängert werden. Dies geht noch weit über den sogenannten Maulkorberlass vom Dezember 2019 hinaus, mit dem der Parlamentspräsident Abgeordneten im Falle eines öffentlich vorgetragenen Protests auferlegen kann. Zugangssperren zum Parlament von bis zu 60 Tagen und ein Entzug der Diäten von bis zu sechs Monaten sind möglich. Außerdem wurde der Zugang der Abgeordneten zu öffentlichen Einrichtungen wie Ministerien erschwert. Es dürfen sich auch nach der Wahl keine neuen Fraktionen bilden, parteilose Abgeordnete dürfen keine neue Fraktion durch Zusammenschluss bilden oder einer bestehenden beitreten.

In dem jetzigen Zustand einer gleichgeschalteten Presse, einer sehr weitgehenden Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, einer erneuten Wahlrechtsreform zum Nachteil kleiner und oppositioneller Parteien und einem machtlosen Parlament kann man Ungarn in seiner jetzigen Verfassung kaum mehr einen demokratischen Staat nennen. Dies kann nicht ohne Konsequenzen auf der Europäischen Ebene bleiben, aber auch die Bundesregierung und insbesondere die Unionsparteien, die mit Fidesz in der Europäischen Volkspartei organisiert sind, können dies nicht weiter unkommentiert lassen. Hierzulande verurteilt die Union alle, die sich weigern, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen. Das sie gleichzeitig gemeinsame Sache mit einem Unrechtsstaat und dessen Diktator macht, darf man getrost verlogenes Pharisäertum nennen.