In der EU gilt in vielen Fällen das Konsensprinzip. Eine Umstellung auf Beschluss durch Qualifizierte Mehrheiten auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird derzeit erwogen.
Mehrheitsentscheidungen in der GASP
Militärmacht Europa?
In der Europäischen Union gilt in vielen Fällen ein Konsensprinzip, das heißt, Beschlüsse müssen von den Staats- und Regierungschefs einstimmig gefällt werden ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Größe der Mitgliedsstaaten. Dies ist schon seit langem Gegenstand der Kritik, es lähme den Fortschritt in der EU. Aber auf der anderen Seite garantiert dieses Prinzip den kleineren Mitgliedsstaaten einen realen politischen Einfluss und die Wahrnehmung, im Konzert mit den Großen gehört zu werden. Durch die Umstellung von Konsens- zu Mehrheitsentscheidungen droht hingegen die Gefahr, die Minderheitenposition aus dem einen Politikfeld durch Blockadehaltung in einem Feld geltend zu machen, in dem Einstimmigkeit nötig ist.
Auch mit dem Verweis auf die nächsten EU-Erweiterungen im Jahr 2025 Richtung West-Balkan und der noch größer werdenden politischen Komplexität hat die Juncker-Kommission im September 2018 eine Mitteilung mit dem Titel »Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« [KOM(2018)647] an den Europäischen Rat, das Parlament und den Rat auf den Weg gebracht. Es heißt im ersten Absatz: „Europa steht […] vor einer einfachen Frage: Wollen die Europäer selber über ihre gemeinsame Zukunft entscheiden oder wollen sie diese Entscheidung anderen überlassen? Will die Europäische Union eine tragende Säule der im Entstehen begriffenen multipolaren Weltordnung sein oder nur Spielball?“
Mit der Mitteilung ist eine Aufforderung an die Mitgliedsstaaten verbunden, die im Vertrag über die Europäische Union (EUV) angelegten Möglichkeiten zur Umstellung des Konsensprinzips auf Beschluss durch Qualifizierte Mehrheiten auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vollständig auszuschöpfen. Nach Art. 31, Abs. 3 (EUV) kann mit einem einmaligen einstimmigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs in zu bestimmenden Fällen das Beschlussverfahren von Einstimmigkeit auf Qualifizierte Mehrheit umgestellt werden. Das heißt, sie stimmen zu, zukünftig auf nationalstaatlichen Einfluss zu Gunsten einer Mehrheitsentscheidung zu verzichten. In Deutschland muss der Bundestag der Umstellung zustimmen.
Zunächst soll der Rat in drei Handlungsfeldern mit Qualifizierter Mehrheit beschließen können: 1. bei Menschenrechtsfragen in multilateralen Foren; 2. bei der Verhängung von Sanktionen und 3. bei der Einleitung und Durchführung ziviler Krisenmissionen im Ausland. Fälle mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen werden in Art. 31 Abs. (4) EUV explizit von der Möglichkeit der Abstimmung mit Qualifizierter Mehrheit ausgeschlossen.
Eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung wird auch als doppelte Mehrheit bezeichnet, weil mindestens 55% der Staaten zustimmen müssen, die mindestens 65% der Gesamtbevölkerung der EU abbilden. Praktisch bedeutet es, 15 Staaten können eine qualifizierte Mehrheit auf den Weg bringen, bei knapp 450 Millionen Menschen müssen die Staaten ca. 290 Millionen Einwohnende der Gesamt-EU abbilden. Dabei ist es egal, wie diese 290 Millionen prozentual in einem »popular vote« abstimmen würden. Sie werden in Gesamthaftung genommen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der »konstruktiven Stimmenthaltung«, mit der ein Mehrheitsbeschluss nicht blockiert wird. Doch von dieser ist bislang kaum Gebrauch gemacht worden, weil es sich doch zumeist um Fragen existenzieller Tragweite handelt.
Am Montag, den 23. November 2020 hat zum Thema eine vorbereitende Anhörung im EU-Ausschuss stattgefunden. Es bestand weitgehende Einigkeit in der Auffassung, dass ein solcher Übergang eine langwierige Aufgabe sein wird. Hier spielen zum einen die unterschiedlichen Militärtraditionen, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in den Staaten der Europäischen Union herausgebildet haben, eine starke Rolle. Es wurde aber auch davor gewarnt, zu hohe Erwartungen an Mehrheitsbeschlüsse zu knüpfen, da diese das Potenzial zu kontinuierlichen Minderheiten haben und zu weiteren tiefgehenden und strukturellen Unstimmigkeiten in der EU führen können. Alternativ wurde eine weitreichende Vertragsänderung zur Diskussion gestellt, mit der eine offene Diskussion geführt werden könne. Hierdurch könne auch eine neue Kompromisskultur entstehen. Aber angesichts der gescheiterten Verfassungsdiskussion ist das kaum zu erwarten.
Kritisch wurde angemerkt, dass hier eine weitere Verlagerung von nationalstaatlicher Macht an die Europäische Union vollzogen würde. Dies ist angesichts der Kriege der vergangenen Jahrhunderte nicht per se schlecht, sondern wirft Fragen nach demokratischer Kontrolle und der Bedeutung von Friedenspolitik auf. Die Demokratie-Defizite der Institutionen der Europäischen Union und die daraus resultierende Demokratieverdrossenheit gegenüber der Union könnten durch Mehrheitsbeschlüsse gestärkt werden.
Auch sind die militärische Aufrüstung und das Säbelrasseln der Gegenwart zwischen den neu entstehenden Großmächten stärker zu kritisieren. Durch die Konstruktion einer Supermacht EU könnte es zu globalen Super-Konflikten kommen, der Neoliberalismus brauchte in der Vergangenheit immer eine starke militärische Repräsentation für die Unterstreichung der Konkurrenzverhältnisse. Trotz der breiten Einschätzungen, die die Vielfältigkeit der politischen Meinungen wiedergespiegelt hat, war die Schlagzeile über die Anhörung: »Experten begrüßen Mehrheitsentscheidungen« und so wird wohl die Beschlussempfehlung des EU-Ausschusses an den Bundestag auf Zustimmung ausfallen. Die Linke wird das sicher nicht mittragen.
Derweil geht die tagespolitische Debatte längst um die Frage der zukünftigen Ausgestaltung des Verhältnisses von EU und NATO. Nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs ist Paris die einzige Atommacht in der EU und hat als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat als einziges EU-Mitgliedsland dort ein Vetorecht. Macron hatte Ende 2019 die NATO als hirntod charakterisiert. In der Konsequenz fordert der französische Präsident im Sinne der Mitteilung der Juncker-Kommission eine stärkere Rolle für eine militärisch souveräne EU und eine Aufwertung von Paris gegenüber Berlin. Die deutsche Verteidigungsministerin hingegen nennt das nach der Wahl des Demokraten Joe Biden »eine Illusion« und möchte am liebsten wieder zu den Verhältnissen zurückkehren, in denen die USA die Rolle der Weltpolizistin hatten und es aus Bonn noch die West-Berlin-Zulage gab.
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