Nach dem Platzen der Immobilienblase ist das spanische Parteiensystem in starke Bewegung geraten. Dieser Trend setzt sich fort, wie die Madrider Regionalwahl vom 4. Mai zeigt.

Wahlen in Madrid

Die Bewegung ist tot, es lebe die Bewegung!

In den zurückliegenden Jahrzehnten haben in Spanien nach dem Zurückdrängen der Falange die sozialdemokratische Partido Socialista Obrero Espanol (PSOE) und die konservative Partido Popular (PP) wechselweise die Regierungen gestellt. Aber nach den gesellschaftlichen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, dem Platzen der Immobilienblase in den Jahren 2007 / 2008 ist das Parteiensystem in starke Bewegung geraten.

Nach der Gründung von Podemos kam sie in der Wahl von 2015 auf knapp 21%. Die PP stürzte von 44,6% um 16% und im April 2019 noch einmal um 16% auf nun knapp 17%. Die PSOE hatte bei der Wahl 2008 noch knapp 44%, stürzte 2011 um 15% ab und bei der Wahl 2015 noch einmal um knapp 7% auf 22%, im Wahljahr 2019 hat sie sich wieder auf ca. 28% hochgekämpft. Das ist 16% unter ihrem Ergebnis von 2008. Podemos wollte Anfangs »weder links noch rechts« sein, ist nach einem strategischen Streit zwischen Iglesias und Íñigo Errejón Galván in ein Bündnis mit der traditionsreichen Izquierda Unida (IU) und einer ökologischen Kleinpartei eingetreten, um als Unidas Podemos (UP) seine Chancen zu erhöhen. Trotzdem ist UP – vielleicht auch durch die Linksbindung, darüber wird bis heute intern gestritten – von 2015 auf 2019 um 8% auf knapp 13% gesunken.

Die rechtsliberale Cuidadanos ist eine Abspaltung von der PP (die damals in einem Sumpf aus Korruption versunken war) und gegen den katalanischen Separatismus gegründet worden, sie trat 2015 erstmals spanienweit an. Dabei holte sie aus dem Stand rund 14%, in der Novemberwahl 2019 ist sie um 9% auf knapp 6% gefallen. 2014 wurde die rechtsnationale Partei Vox als Abspaltung von der PP gegründet, sie lehnt ebenfalls Autonomierechte ab, ist gegen illegale Migration und Feminismus. Bei der vorgezogenen Regionalwahl 2018 in Andalusien kam sie auf überraschende 11% und 12 von 109 Sitzen. In der Nationalwahl im April 2019 kam sie aus dem Stand auf über 10% und im November stieg sie auf über 15%.

Durch die Instabilität im Parteiensystem wurden in den Jahren nach 2015 mehrere irreguläre Neuwahlen notwendig, nicht zuletzt weil die Erfahrungen mit Koalitionen fehlten, im Juni 2016, im April und im November 2019 wurde gewählt. Im Januar 2020 hat die PSOE nach fünf Jahren ihre Blockadehaltung gegenüber Podemos aufgegeben und eine Minderheitenregierung aus PSOE, UP, IU und Partit dels Socialistes de Catalunya wurde im Parlament bestätigt. Seitdem steht die Regierung unter starkem Druck von Vox, die im Oktober 2020 einen Misstrauensantrag gestellt hat, mit dem sie aber krachend gescheitert ist. Der Vorwurf lautete, die Regierung würde mit Mafiastrukturen zusammenarbeiten, Spanien, seine Nation und seine Monarchie zerstören.

Vor dem Hintergrund dieser Situation hat der regionale Wahlkampf zur gesetzgebenden Asamblea de Madrid in der Autonomen Region Madrid eine zunehmend hohe Aufmerksamkeit bekommen. Die autonome Gemeinschaft Madrid (Comunidad de Madrid) ist der erweiterte Ballungsraum um die Hauptstadt und hat aufgerundet 6,7 Millionen Einwohner:innen und ca. 5,1 Millionen Wahlberechtigte. Ganz Spanien hat rund 47 Millionen Einwohnende, es sind rund 14,25% der Gesamtbevölkerung zur Wahl aufgerufen. Die Wahl am 4. Mai galt als Stimmungstest für die Standfestigkeit der nationalen Regierung aus PSOE und Podemos, die intern eine hohe Spannung aufweist.

Die amtierende konservative Regionalregierungspräsidentin von Madrid, Isabel Diaz Ayuso stand in einem Bündnis mit der liberalen Cuidadanos. Sie hat Anfang März 2021 die Flucht nach vorne angetreten, vorgeblich um einem Misstrauensantrag der Opposition zuvorzukommen. Diese jedoch sagt hingegen, Ayuso hätte die guten Umfragewerte für sich und die PP nutzen wollen. Sie hat das Regierungsbündnis mit Cuidadanos gekündigt, um entweder eine absolute Mehrheit zu holen – was aber als unwahrscheinlich galt – oder, und dies wurde als realistischer eingestuft, die Rechtsaußen Partei Vox in die Regionalregierung zu holen, um damit den Weg für die Beteiligung von Vox in der nächsten Nationalregierung den Weg zu ebnen. Ayuso kämpfte vordergründig um ihr Amt als Regionalpräsidentin, zielte jedoch auf die Hauptstadt, um die Regierung Sanchez zu erschüttern.

Auseinandersetzungspunkt wurde die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Die Zentralregierung folgte der »Strategie Lockdown«, die Regionalregierung hingegen der »Offenhaltung der Wirtschaft und sanfte Kontrolle der Pandemie«. Ayuso brandmarkte den Lockdown der Zentralregierung als »Kommunismus«. Pablo Iglesias, stellvertretender Ministerpräsident und bekanntestes Gesicht von Unidas Podemos gab sein Ministeramt auf, um in der Autonomen Region Madrid in den Wahlkampf zu ziehen. Hierfür hat er der erst 2019 gegründeten Partei Mas Madrid (Mehr Madrid) ein Bündnis unter seiner Führung angeboten. Mas Madrid aber ist, wie könnte es anders sein, eine Abspaltung von Podemos, die ihren Ursprung im strategischen Streit um »Weder Links noch Rechts« oder »Linksbündnis mit vorhandenen Kräften« zwischen Iglesias und Galván hat. Kein Wunder, das Mas Madrid das gönnerische Angebot von Iglesias showgerecht mit dem Argument »Madrid ist keine Netflix-Serie« zurückgewiesen hat.

Mit dem Verweis auf »House of Cards« und der Berichterstattung sprang die Aufmerksamkeit drei Stufen hoch und nun schaute nicht nur Spanien, sondern die Welt bei dem Wahlkampf zu. Der kam nun erst richtig in Fahrt. Die Regionalpräsidentin Ayuso rief dem Land laut zu: »Spanien schuldet mir etwas, ich habe Iglesias aus der Regierung geholt«. Iglesias setzte ihrer Parole »Freiheit oder Kommunismus« die Losung »Demokratie oder Faschismus« entgegen. Ayuso blieb ruhig und antwortete in einem Interview jovial: »Wenn sie dich als Faschistin bezeichnen? Dann stehst du auf der richtigen Seite der Geschichte«. In dem aufgeladenen Wahlkampfklima wurden Morddrohungen mit Pistolenkugeln an die Kandidat:innen geschickt, es wurde ihnen persönlich täglich vor der Haustür aufgelauert. Frühere Armeeoffiziere phantasierten in Chats von Erschießungen. Das zehrte an den Nerven, polarisierte und erhitzte das eh schon stark aufgeladene Spanien weiter.

Das vorläufige Ergebnis zeigt eine Verdoppelung der Mandate für Ayuso und die PP, sie stellt voraussichtlich 65 von 136 Mandaten und verfehlt damit knapp die absolute Mehrheit von 69 Stimmen. Der bisherige Koalitionspartner der PP, Cuidadanos verfehlt die 5%-Hürde und verliert 26 Mandate. Die C´s wurden noch am Wahltag für politisch tot erklärt und könnten perspektivisch vielleicht in der Ursprungsregion Katalonien überleben. Die rechtsextreme Vox gewinnt entgegen besserer Prognosen aber nur ein Mandat hinzu und hat nun 13 Sitze. Die Corona-Strategie von Ayuso war medizinisch gewertet eine volle Katastrophe, aber wahlkampftaktisch ein politischer Erfolg.

Die PSOE stürzt von ca. 27% auf 17%, von 37 auf 24 Mandate, sie verlieren ein Drittel der Stimmen. Das ist ihr bisher niedrigstes Ergebnis in Madrid, die Erschütterungen reichen bis in die Bundeszentrale der Partei und sägen am Stuhl von Regierungschef Pedro Sanchez. Mas Madrid, die Pablo Iglesias von Podemos die kalte Schulter gezeigt hat, steigert sich mit der unbekannten Kandidatin Monica Garcia von 10 auf 24 Sitze. Die neue Regionalpartei hat nun genau so viele Mandate wie die PSOE, deren Spitzenkandidat Ángel Gabilondo sich selber als langweilig bezeichnet hat.

Podemos gewinnt lediglich drei Mandate hinzu und hat nun als lediglich fünftstärkste Kraft 10 Mandate, ein niederschmetterndes Ergebnis. Iglesias sagte am Wahlabend: »Wir haben versagt. Die institutionelle Präsenz der äußersten Rechten wurde gefestigt«. Er legte sämtliche Ämter mit sofortiger Wirkung nieder und zog sich aus der Parteipolitik zurück. Damit ist auch die Madrid-Strategie von Podemos gescheitert, eine Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in den benachteiligten Vierteln der Region mit traditionell geringer Wahlbeteiligung durch massiven Wahlkampf zur Wahl von Podemos zu bewegen. Zwar ist die Wahlbeteiligung um ca. 11 Prozent auf 69% gestiegen, aber die PP hat gerade in den armen Wahlvierteln gewonnen und auch VOX ist hier leicht gestiegen. Eine detaillierte Wahlauswertung der Zeitung »El Pais« zeigt, dass in jedem Straßenzug der Autonomen Region Madrid die politische Stimmung nach rechts gerutscht ist.

Arbeitsministerin Yolanda Diaz soll nun die Führung von Unidas Podemos übernehmen, das wäre die Fortsetzung von Personenkult und wird vermutlich den Verlauf von Bewegungen bestätigen, die sich an der Basis der Wahlbevölkerung und der Gesellschaft nicht verankern können. Sie ermüden, kommen zum Erliegen und die Zerstreuten wenden sich aktuell neuen Themen zu und sammeln sich dort, wo mehr los ist. Die spanische Linke bleibt gespalten, aber mit Mas Madrid ist schon eine neue Struktur entstanden, die das Bewegungspotenzial bei der nächsten nationalen Wahl im Jahr 2023 auf sich vereinen könnte, wenn sie spanienweit antritt. Die Wahlkampfdramaturgie in der Region Madrid ist ein erster Hinweis darauf, welche harte Polarisierung das ganze Land bis dahin durchläuft.