Der Sauerstoff der Demokratie, so schrieb Eric Gujer in der NZZ, ist der politische Wechsel. Nicht die Regentschaft. Von der letzten Verteidigerin der freien Welt zur letzten Verteidigerin ihrer vierten Amtszeit. So könne man den Verlauf der Stellung von Angela Merkel innerhalb von zwei Monaten kurz zusammenfassen. Es wäre ihre vierte Amtszeit. Da werden Erinnerungen an die vierte Wahlperiode von Helmut Kohl wach, sie war schwer abgestandene Luft. Am Ende der Jahre 1994 bis 1998 schied das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Kanzler regulär aus dem Amt. Denn freiwillig ging er nicht. Auch nicht nach 16 Jahren.

Doch hierzu bedurfte es einer impulsiven Handlung in der Politik. Wo sie sich vollzog? Auf dem Mannheimer Parteitag der SPD von 1995. Hier wurde die Initiative eingeleitet, mit der Oskar Lafontaine Rudolf Scharping aus dem Parteivorsitz drängte, an deren Ende aber nicht Lafontaine, sondern Gerhard Schröder Kandidat der SPD wurde. Er setzte sich ein zweites Mal bei der Agenda 2010 Politik über ihn hinweg und Oskar Lafontaine, zu der Zeit in manchen Zeitungen als der „gefährlichste Mann Europas“ charakterisiert, verließ das Amt des Finanzministers. Lafontaine verließ die SPD und trat der WASG bei. Zusammen mit Gregor Gysi gab er 2005-2007 den zentralen Impuls zur Gründung einer neuen Partei aus WASG und PDS.

Bezogen auf die vor uns liegende Wahlperiode ist das „Wie?“ des Amtsendes von Angela Merkel die offene Frage. Kohl konnte 98 nicht selber auf eine weitere Kandidatur verzichten. Die Union war zur personellen Erneuerung nicht in der Lage. Die Union war auch 1999 nicht erneuerungsfähig, als der jetzige Bundestagspräsident Schäuble Parteivorsitzender wurde, sein Rücktritt wurde durch die Aufdeckung der Schwarzkonten- und Schwarzkofferaffäre erzwungen. Merkel erklomm 2000 den Parteivorsitz, sie drängte  Friedrich Merz nach der Wahl 2002 aus dem Fraktionsvorsitz. Seit 12 Jahren ist »Kohl’s Mädchen« Regentin der Bundesrepublik Deutschland. Die Union scheint von 17 auf 21 trotz innerparteilichen Rumorens wie schon 94 auf 98 nicht erneuerungsfähig. Es war die SPD, die ihre innerparteiliche Situation nach der verlorenen Wahl von 1994 aufgebrochen hat. Sie konnte zusammen mit Bündnis90/Die Grünen eine gesellschaftspolitische Stimmung herstellen, in der die Idee der ersten Rot-Grünen-Regierung wie ein frischer Aprilduft daherkam.

Es ist sicherlich eine Gemeinsamkeit, dass wir die vierte und vermutlich letzte Wahlperiode der Kanzlerin vor uns haben. Die Merkel-Jahre beginnen nun wie Bleiringe an der Union zu hängen. Doch im Unterschied zum Ende der 1990er gibt es keine politische Situation, aus der heraus eine Bewegung nach Links entspränge. In der die Idee einer Rot-Grünen bzw. Rot-Rot-Grünen-Regierung mit der Idee eines gesellschaftspolitischen Fortschritts verbunden wäre. Es hängt kein Aprilduft in der Luft, nicht mal ein Vormärz. Die politische Stimmung ist derzeit eher durch die EU-kritischen Tendenzen geprägt, die in der Gemengelage von zehn Jahren Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise mit der Flüchtlingssituation seit 2015 in Richtung Romantisierung der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und der Hochzeit der Nationen in Westeuropa schielt.

In Deutschland hat die SPD ihre Quittung für die Agenda-Politik erst im Wahlergebnis von 2009 bekommen (von 34,2% auf 23,0%). Hieraus leitet sich die Vermutung ab, dass auch die Union die Quittung für ihre Flüchtlingspolitik erst mit einem neuen Kandidaten in der nächsten Wahl bekommen wird. Dies wäre freilich mit einer weiteren Schwächung der so genannten Mitte-Parteien verbunden und es würde vermutlich nicht einmal mehr für eine Schwarz-Rote-Regierung reichen. Sie ist von einer Großen Koalition mit einer 80% parlamentarischen Mehrheit im Jahr 2013 (508 von 631 Mandaten) auf eine 53% Mehrheit im Jahr 2017 abgestürzt (399 von 709 Mandaten). Aus diesem Absturz, der übrigens für die Union (-8,6%) erheblich größer war als für die SPD (-5,2%), resultiert die momentane Lähmung, gepaart mit taktischer und strategischer Unfähigkeit und Mutlosigkeit.

Die momentane Unfähigkeit des Zentrums der EU zur Regierungsbildung, mag sich einmal im Rückblick als ein weiteres Element der Lähmung der Union und der Stärkung der Rückbesinnung auf das Nationale erweisen. Je mehr Energie die innenpolitische Situation erfordert, desto weniger steht für die außenpolitische Koordination zur Verfügung. Dies ist der entscheidende Wandel von einer komfortablen 80% Mehrheit zu einer mglw. erst nach einem halben Jahr wirksam werdenden 53% Mehrheit. Es kann daraus die Vermutung abgeleitet werden, dass nicht nur Merkels Amtszeit ihrem Ende entgegen geht, sondern auch der erste Abschnitt der Berliner Republik, der mit der Vereinigung 1990 begann. In diesem wurde die Republik zum Zentrum der EU. In dem vor uns liegenden Abschnitt kann Deutschland diese Rolle nicht mehr tragen. Frankreich und auch Österreich haben sich personell und politisch neu aufgestellt. Der Eine vollzieht die Bewegung der Agenda 2010 nach. Der Andere orientiert sich an Osteuropa und wertet sich zur nationalprotektionistischen Flügelmacht auf.