Die französische Regierung steht durch die Proteste gegen die neoliberale Rentenoffensive von Präsident Macron erneut mächtig unter Druck.
Rente mit 70?
Seit dem 5. Dezember 2019 gibt es in Frankreich starke Proteste gegen die neoliberale Rentenoffensive von Präsident Emmanuel Macron. Und dies nicht nur in der Hauptstadt Paris, sondern im ganzen Land. Selbst über Weihnachten standen die meisten Räder im öffentlichen Verkehr still. Am Anfang Januar gingen erneut nach Angaben der Gewerkschaften bis zu 1.700.000 Beschäftigte auf die Straße. Die Regierung von Édouard Philippe steht nach dem Protest der Gelbwesten erneut mächtig unter Druck.
Die erstmals Mitte Dezember aufgeweichte Version konnte den Widerstand nicht beenden. Der Präsident will an seinem Vorhaben festhalten und den Gesetzesentwurf noch vor der Kommunalwahl am 15. und 22. März des Jahres durchbringen. Zusammengefasst geht es um eine Heraufsetzung der Lebensarbeitsdauer um zwei Jahre, was auch wie in Deutschland faktisch einer Rentenkürzung gleich kommt. Die verschiedenen, teils kleingliedrig gestaffelten Rentenkassen sollen vereinheitlicht werden, Rechtsstandards und Privilegien einzelner Berufsgruppen geschliffen.
Nach den Streiks des vergangenen Wochenendes war Premier Philippe bereit, die Erhöhung des Alters für eine Zeit zurückzunehmen. Aber nur, wenn eine Finanzierungskonferenz unter Beteiligung der Gewerkschaften bis April des Jahres ein überzeugendes Konzept entwickeln kann. Gewerkschafter befürchten nun, dass es sich hier um eine Nebelkerze handelt, um auf Zeit zu spielen und den Widerstand zu brechen, indem man die Gewerkschaften in die kapitalistische Logik hineinzwingt. Der Trick besteht darin, diese Logik nach Art von Merkel als alternativlos darzustellen. Das ist sie aber nicht.
Auch André Chassaigne, Vorsitzender der Group Démocrat et Républicaine in der Nationalversammlung, mit dem ich seit Jahren eine Parlamentspartnerschaft pflege und die Parti Communiste Francaise kämpfen an vorderster Front entschieden mit gegen den neoliberalen Durchbruch. Die Solidarität mit den Arbeitskämpfen in Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft in der Europäischen Union ist nicht nur internationalistisch zu verstehen, sondern sollte auch aus dem Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland verstanden werden. Es ist den Demonstrierenden ein maximaler Kampferfolg zu wünschen, mit dem sie ihre Rechte verteidigen.
Mit der Agenda 2010 Politik hat die Rot-Grüne Regierung dem Kapital vor 15 Jahren einen nationalökonomischen Standortvorteil verschafft. Wenn Macron das Schleifen der Arbeits- und Sozialstandards in Frankreich gelingen sollte, wird der neoliberale Wanderzirkus schnell weiterziehen und wieder hierzulande aufschlagen. Dann wird die Klage noch lauter: »Die Rente kann bald nicht mehr bezahlt werden.« »Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft leidet.« »Die Sozialabgaben werden zu hoch.« Schon jetzt hören wir wieder regelmäßig die Leier vom großen Reformstau in Deutschland. Schon jetzt ziehen die gelben Klageposaunen wieder durchs Land. »Reformstau.« »Reformstau.« »Reformstau.« »Das gibt ein böses Erwachen.«
Bereits im März und im September des vergangenen Jahres wurden thematische Pressekampagnen geführt. Im März von der Bertelsmann Stiftung, die hatte zu diesem Thema von Experten Untersuchungen durchführen lassen. Im Herbst hat die Bundesbank nachgelegt. »Länger arbeiten ist DIE Lösung.« Was hätte die Bundesbank hier für eine Zuständigkeit? Gleichzeitig sind in der deutschen Presse in Abständen Artikel zu lesen im Tenor: »Das denken die Deutschen über die Rente mit 70.« Dabei erreichen schon jetzt ca. 50% das reguläre Renteneintrittsalter aus gesundheitlichen Gründen nicht. Für die ist schon die Rente mit 67 eine starke Rentenkürzung gewesen. Armut per Gesetz. Von Recht mag man hier nicht mehr sprechen.
Das strukturiert angelegte Vorgehen von Bertelsmann, Bundesbank und Co. ist ein vorbereitendes Kanonenfeuer. Tenor: »Das mit dem länger arbeiten muss man doch wohl einsehen.« Spätestens wenn in wenigen Jahren die vielen Babyboomer der Nachkriegszeit in den Ruhestand gehen. Franz Müntefering, einer der Antreiber für die Rente mit 67, sagte im alten Arbeiterjargon: »Jetzt ist nicht die Zeit für einen großen Schluck aus der Pulle.« Die langfristigen Folgen der Entscheidung werden stetig zunehmende Rentenarmut sein und eine SPD, die kaum noch auf ein zweistelliges Ergebnis kommt.
Mit der Kampagne für eine erneute Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird einmal mehr Betteln müssen vorprogrammiert. Die Arbeit, die doch einmal das Herzstück der sozialen Marktwirtschaft war, um sich Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung zu erarbeiten, wird ein weiteres Mal entwertet. Auf den Fluren des Parlaments wird offen darüber spekuliert, ob das Vorhaben der Rente mit 69 oder gar 70 noch durch die jetzige Schwarz-Rote Koalition aufgebracht und durchgezogen wird. Der konkrete Zeitpunkt wird nicht zuletzt vom Ausgang der aktuellen politischen Kämpfe in Frankreich abhängen.
Deshalb sollte Die Linke nicht nur mit der französischen Streikbewegung solidarisch sein, sondern diese trotz aller Unterschiede in den politischen Institutionen und den politisch-kulturellen Mentalitäten ihre Strategien und Taktiken auch praktisch genau beobachten und studieren. Nach der zweitgrößten Volkswirtschaft in der EU ist die größte dran. Dann wird erneut unter Verweis auf die für das Kapital gesunkene Attraktivität versucht, die Arbeitskosten und die Sozialkosten zu senken. Es ist nur eine Frage der Zeit und die sollte zur Vorbereitung einer effektiven Gegenwehr genutzt werden.
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