Boris Johnson verspielt den Ruf Großbritanniens. Kritiker sehen das Königreich auf dem Weg in einen „failed state“. Der Post-Brexit-Prozess läuft völlig aus dem Ruder.

Get Brexit Done

Johnson verspielt den Ruf Großbritanniens

 

Es ist in EU-politischen Dingen fast schon Tradition, im Mittelfeld der Verhandlungszeiträume zu trödeln, manchmal einen Mittagsschlaf einzulegen und auch den berühmten Fünf-Uhr-Tee abzuwarten. Im seit 2016 laufenden Brexit-Prozess, dem Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union (EU), wird gebetsmühlenartig wiederholt: »Wenn es kein Abkommen gibt, gibt es kein Abkommen.« Dann kommt es zu einem harten Brexit ohne Einigung, mit schweren Schäden für die Wirtschaft der EU und des VK.

Am Ende gab es ein Austrittsabkommen und damit begann die Übergangsfrist, die am 31. Dezember 2020 endet, dem letzten Geltungstag des Mehrjährigen Finanzrahmens von 2014 bis 2020, in dem das VK fest eingeplant ist und seine finanziellen Zusagen einhalten muss. Nach Monaten der Corona-bedingten Flaute und im August ergebnislos vertagten Gesprächen in den Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und VK findet diese Woche die achte Verhandlungsrunde statt. Und der britische Premier hat sie mit einem Trampeln eröffnet, wie wir es bislang höchstens vom US-amerikanischen Präsidenten erlebt haben.

Boris Johnson, der überhaupt nur wegen dem Brexit Premierminister werden konnte und dessen Slogan bei der letzten vorgezogenen Wahl im Dezember 2019 »Get Brexit Done« lautete, hat diese Woche mit einem Ultimatum an die EU begonnen, nachdem die Verhandlungen bis zum EU-Gipfel am 15. und 16. Oktober 2020 zu Ende sein müssen, damit die Abmachungen bis Ende des Jahres noch rechtzeitig umgesetzt werden können. Nach Mitte Oktober sieht er keine Chance mehr darauf, dass ein Abkommen erreicht wird und droht mit Verhandlungsabbruch. Auch ein Scheitern der Gespräche über die zukünftigen Beziehungen ist für ihn ein gutes Ergebnis, denn dann käme es aus seiner Sicht zu einem Verhältnis wie zwischen EU und Australien.

Als zweiten Vorstoß hat Johnson am Mittwoch, den 9. September, einen Gesetzentwurf »Binnenmarktgesetz« zur ersten Lesung in das britische Unterhaus eingebracht, mit dem er ebenfalls neue Maßstäbe setzt. Mit diesem Gesetz ist geplant, Teile des bereits verabschiedeten Austrittsgesetzes zwischen EU und VK im Nachhinein für ungültig zu erklären. Dies gilt insbesondere für die Nordirlandregelung, deren Text 64 Seiten umfasst. Durch die Teilung der Insel Irland in ein irisches und ein britisches Territorium verliefe eine harte Grenze EU – VK über die irische Insel.

Beobachter fürchten ein Wiederaufflammen des Kriegs zwischen der »Besatzungsmacht« England und der Irish Republican Army, IRA. Die Nordirlandregelung bedeutet im Kern einen beidseitigen Verzicht auf die Errichtung einer Zollgrenze. Die EU hatte sie absichtlich in den Austrittsvertrag implementiert, um ihr das Gewicht eines internationalen Rechtsabkommens zu geben. Diese stellt Johnson mit dem Gesetz nun rückwirkend in Frage und will sich eine Option schaffen, für Nordirland ein eigenes britisches Regelwerk zu setzen. Die Regierung will auch die Verpflichtung umgehen, aus Nordirland auf die britische Insel kommende Waren zu deklarieren.

Verfassungskrise nach Abstimmung?

Bei Johnsons Vorstoß handelt es sich um einen Bruch internationalen Rechts. Nordirland-Minister Brandon Lewis hat im Unterhaus den Vorwurf bestätigt, das neue Gesetz könne einen Bruch internationalen Rechts mit sich bringen. Nicht nur die Reaktionen der EU-Institutionen auf den Vorstoß sind eindeutig. Der irische Außenminister nannte das Vorhaben sehr unklug. Auch die britische Innenpolitik ist darüber tief aufgebracht. The Queen is not amused. Die Opposition im Unterhaus verurteilt den Gesetzentwurf mit Bausch und Bogen. Sogar große Teile der konservativen Partei sind dieser Meinung.

Theresa May, die frühere Premierministerin, hat bei der ersten Lesung den Hauptangriff gegen die Gesetzesvorlage von Johnson geführt. Sie sieht die zukünftige Vertrauenswürdigkeit Großbritanniens und seinen internationalen Ruf als Heimat des »rule of law« aufs Spiel gesetzt. Der ehemalige Premier John Major warnte davor, die Glaubwürdigkeit Britanniens zu verspielen, die eine jahrhundertelange Tradition bis zur Magna Charta hat. Jonathan Jones, oberster Rechtsberater der Regierung, ist zurückgetreten, weil er diesen Schritt nicht mitträgt. Ein konservativer Abgeordneter aus Wales hat alle seine Ämter niedergelegt.

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon beschrieb die Regierung folgend: »Was für ein Haufen von inkompetenten und skrupellosen Spielern – sie zerstören den internationalen Ruf Großbritanniens.« Angesichts des Widerstands in den konservativen Reihen konnte sich der neue Vorsitzende der in dieser Frage durchaus nicht einheitlichen Labour-Partei, Keir Starmer, in der parlamentarischen Fragestunde entspannt zurücklehnen und vollständig auf das Corona-Chaos konzentrieren, das die Johnson-Regierungspolitik in den vergangenen Wochen produziert hat. Kritiker sehen das Vereinigte Königreich unter Premier Johnson nun auf dem Weg in einen „failed state“.

Sollte Johnson den Gesetzentwurf zur zweiten und dritten Lesung mit abschließender Abstimmung ins Unterhaus einbringen, wird eine ernsthafte und lang andauernde Verfassungskrise nicht ausgeschlossen. Der Brexit-Prozess droht in London im Herbst 2020 völlig aus dem Ruder zu laufen, doch wie war der Slogan des United Kingdom Independence Party (UKIP)-Vorsitzenden Nigel Farage zum Auftakt der Kampagne für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union im Jahr 2016: »Take back Control«.