Nach den Wahlen in den Niederlanden wird bei den nun bevorstehenden Koalitionsverhandlungen über eine Regierungsbildung aus bis zu 6 Fraktionen gesprochen.

Vorgezogene Neuwahlen in den Niederlanden

17-Fraktionen-Parlament

Die Wahlen zur zweiten Kammer in den Niederlanden wurden coronabedingt vom 15. bis 17. März durchgeführt. Pro Gemeinde war ein Wahllokal bereits zwei Tage vor dem eigentlichen Abstimmungstermin am 17. geöffnet, um die Schlangenbildung und Infektionsgefahr zu verringern. Für die Wahl wurden auf Grund der Corona-Pandemie einige Modifikationen im Wahlgesetz durchgeführt.

Wer älter als 70 Jahre ist, konnte Briefwahl beantragen, was sonst nur im Ausland lebenden Niederländer:innen möglich war. Es wurde in Pflegeeinrichtungen die Möglichkeit einer mobilen Wahlabgabe eingerichtet, die Wahlurne kam gewissermaßen zu den Wahlberechtigten und nicht umgekehrt. Vollmachten „an Stelle von“ konnten von drei Personen entgegen genommen werden. In einigen Fällen von kommunalen Wahlen wurden „Drive-In-Wahllokale“ eingerichtet.

Die Tweede Kammer hat festgeschriebene 150 Sitze und wird im Ein-Stimmen-System gewählt. Bei annähernd gleicher Wahlbeteiligung wie 2017 hat die Wahl einen neuen Rekord gebracht, nicht mehr 13, sondern 17 Fraktionen sitzen nun im Parlament. Die bisherige Höchstzahl lag im Jahr 1972 bei 14 Fraktionen. Es muss hinzugefügt werden, in den Niederlanden gibt es keine 3%- oder 5%-Hürde für den Parlamentseinzug. So kommt jede Partei in das Parlament, die 1/150 der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann, das sind in etwa 0,67%. Drei der 17 Fraktionen haben lediglich 1 Mandat, vier Fraktionen immerhin drei, zusammen 15 Mandate, das entspricht 10% an Kleinstparteien.

Das sind die linksgerichtete B1J1, Ende 2016 als Artikel 1 gegründet und eine Abspaltung der Partei Denk, die als Einwandererpartei gegründet wurde und zumeist von türkischen und marrokanischen Einwander:innen muslimischen Glaubensbekenntnisses gewählt wird. Denk wurde 2014 als Abspaltung von der Partei von der Arbeit (PvdA) gegründet. Denk hat 3 Mandate geholt (also 1 Mandat zusätzlich gewonnen), die PvdA ist mit 9 Sitzen und 5,7% stabil geblieben. Sie hatte 2012 jedoch noch knapp 25% und 38 Mandate. Die drei linken Parteien kämen auf 13 Mandate.

Auch die Boer-Burger-Bewegung (BBB) hat 1 Mandat und wurde Ende 2019 als Reaktion auf einen Vorschlag der Regierung gegründet, zur Reduzierung der Stickstoffemmissionen sollte in den Niederlanden der Viehbestand halbiert werden. Da ist 50Plus als 2009 gegründete Partei schon eine der älteren, sie hat drei Mandate verloren und kommt auch nur noch auf 1 Sitz. Die Partei will explizit die Interessen der über 50-jährigen vertreten. Die Staatkundig Gereformeerte Partij (SGP) ist die älteste noch aktive Partei mit Gründungsjahr 1918, sie ist reformistisch im Sinne Calvins und hatte nie mehr als 3 Mandate. Da der Sonntag im strengen Sinne ein Ruhetag ist, schaltet die SGP dann sogar ihre Homepage ab. Seit 2007 dürfen Frauen Mitglieder werden, aber auch nur, weil die SGP sonst keine öffentlichen Gelder mehr bekommen hätte.

Im Dezember 2020 wurde die Partei JA21 als Abspaltung von dem Forum voor Democratie (FvD) gegründet, Anlass war die antisemitische Haltung u.a. von Thierry Baudet, der sich in der Tradition des 2002 erschossenen Pim Fortuyn sieht. In der FvD wurden auch die rassistischen Attentäter Breivik (Norwegen) und Tarrant (Christchurch) gelobt. Baudet liefert sich einen permanenten Showlauf mit Geert Wilders von der rechtsextremen Partij voor de Vrijheit (PVV). Baudet hofiert z.B. den französischen Jean-Marie le Pen oder Alexander Dugin, der als rechtsextremer Ideologe gilt. Baudet 2015 gegründete Partei erhielt 8 Mandate (+ 6), Wilders islamfeindliche PVV kommt auf 17 Mandate (-3). JA erhielt drei Mandate. Zusammen sind das 28 Mandate für Rechtsextreme.

Volt Europe wurde 2018 als proeuropäische Partei gegründet und ist in mehreren Ländern der EU organisiert, in den NL trat sie erstmals zur Nationalwahl an und kommt auf 3 Mandate. Die Christliche Union (CU ist mit 27.000 Mitgliedern die achtgrößte Partei) wurde 2001 gegründet und blieb stabil bei 5 Mandaten. Die Tierpartei Partij voor de Dieren (PvdD) kam auf 6 Mandate. GroenLinks wurde 1990 aus vier Parteien gegründet, sie hat 6 Mandate verloren und kommt noch auf 8 Sitze. Die socialistische Partij (SP), als maoistische Partei in den 1970ern gegründet und heute klassisch sozialdemokratisch, hat 5 Mandate verloren und kommt noch auf 9 Mandate. GL und SP haben zusammen 10 Mandate verloren.

Der Christen-Democratisch-Appél (CDA) wurde 1980 aus drei niedergehenden traditionellen Regierungsparteien (2 protestantisch, 1 katholisch) gegründet, und kommt als viertstärkste Kraft nach Verlust von 4 Mandaten noch auf 15 Sitze. Die Demokraten 66 (D66) ist heute eine klassische Mittepartei, die 1966 gegründet wurde und oft in der Regierung vertreten war. Im Jahr 2002, als die Liste Pim Fortuyn aus dem Stand mit 17% und 26 Mandate zweitstärkste Kraft wurde, erlebte sie ihren stärksten Abrutsch. Sie sank auf 5,1% und 7 Mandate, könnte sich aber stetig aus dem Tief emporarbeiten. Die D66 gewann 2021 knapp 3% hinzu und kommt als zweitstärkste Kraft nun auf 24 Mandate.

Auf dem ersten Platz blieb trotz einiger Fehlleistungen in der Bekämpfung der Corona-Pandemie und Skandale um Sozialleistungen die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VvD) mit dem (neo)liberalen Spitzenkandidaten Mark Rutte. Ende Januar ist es in vielen Städten auf Grund der Corona-Beschlüsse der Regierung zu einer Ausgangssperre (der ersten seit 1945) zu scharfen Protesten mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen gekommen. Die Presse berichtet von Bildern der Verwüstung und den schlimmsten Ausschreitungen seit 40 Jahren, ein Corona-Testzentrum wurde in Brand gesteckt. Das Finanzamt hatte fälschlicherweise von ca. 26.000 Familien mehrjährige Rückzahlungen von Kindergeldzuschlägen in bis zu fünfstelliger Höhe gefordert. Dies hat viele Familien in den Ruin getrieben und arbeitslos gemacht. Es wurde in diesem Zusammenhang über einen Selbstmord berichtet.

Dennoch gewann die VvD nach dem vorzeitigen Rücktritt von Rutte aus dem Amt des Ministerpräsidenten am 15. Januar 2021 0,6% hinzu, die VvD kommt mit 21,9% auf 34 Mandate (+1). Der liberale Rutte steht der Regierung seit 2010 vor und hat sich auf europäischer Ebene einen hervorgehobenen Ruf bei den „geizigen Vier“ erarbeitet, die gegen die Aufstockung des Mehrjährigen Finanzrahmen waren. Bei den nun bevorstehenden Koalitionsverhandlungen ist die PVV von Wilders ausgeschlossen, es wird über eine Regierungsbildung aus bis zu 6 Fraktionen gesprochen. Nach den Wahlen 2017 hat dieser Prozess 209 Tage gedauert und genau eine Einstimmenmehrheit von 76 Mandaten erbracht.