Über die wirtschaftlichen Bilanzungleichgewichte innerhalb der Mitgliedsstaaten des Euro als Ursache der aktuellen Krise ist viel geschrieben worden. Wenn ein Staat wie die Bundesrepublik viel mehr exportiert als importiert, ist dies ein erhebliches Ungleichgewicht, das zu einer Funktionsstörung im Euro-Raum als Ganzes führt. Auf der anderen Seite stehen Länder wie Griechenland und Zypern, die erheblich mehr importieren als sie exportieren und dadurch Schulden aufhäufen. Einer der wesentlichen Vorschläge zur Überwindung der Euro-Krise rührt daher aus der Vorstellung einer Rebalancierung der Ungleichgewichte hin zu Gleichgewichten. Das heißt, wenn die Mitgliedsländer der Euro-Zone in etwa soviel exportieren wie sie importieren, dann wird die wirtschaftliche Gesamtbilanz ausgeglichen, aus der Asymmetrie wird eine Symmetrie und alles wird wieder gut. Der darüber hinausgehende Vorschlag ist eine Übertragung der zentralen nationalen Selbstbestimmungsrechte auf Brüssel und Straßburg, er ist derzeit vollkommen unrealistisch.

In der Debatte über die Ursachen und Lösungswege in der Euro-Krise bleibt zumeist die Existenz der politischen Ungleichgewichte in der EU und der Euro-Zone unbetrachtet. Dies ist umso verwunderlicher, weil diese Ungleichgewichte eine zunehmend größere Rolle spielen und das heißt, die Krise wandelt sich ein weiteres Mal in ihrem Charakter. Die Finanzmarktkrise von 2008 drohte, eine reale Wirtschaftskrise zu werden. Diese Bedrohung wurde z. B. in der BRD mit einem durch Steuergelder finanzierten Rettungspaket von 480 Mrd. Euro abgepuffert. Dadurch ist der deutsche Schuldenstand von 60% auf 80% gestiegen, das unmittelbare Durchschlagen auf die Wirtschaft wurde auf Kosten einer Staatsschuldenkrise verhindert. Diese sollte nun mit dem Mittel Sparpolitik und Fiskalpakt bekämpft werden. Die mit besonderem Druck der Bundesregierung EU-weit verankerte Austeritätspolitik hat nun gerade in den Krisenländern zu einer massiven Wirtschaftskrise geführt, die doch mit den Rettungspaketen gerade verhindert werden sollte.

Heute haben wir, bezogen auf die gesamte EU und die Euro-Zone, eine reale Wirtschaftskrise. Ein zentrales Problem darin ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit – es wird bereits von einer verlorenen europäischen Generation gesprochen. Die Wirtschaftskrise wird mehr und mehr zu einer politischen Krise der EU und der Euro-Zone, weil die politischen Institutionen und die politischen Eliten nicht in der Lage sind, die Krise zu überwinden und beenden. Sie können aus dem Lobgesang von Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit in einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion keine Stabilität und kein auskömmliches Dasein für die Mehrheit der EU-Bürgerinnen und Bürger herstellen. Trotz dessen wird das neoliberale Mantra und das Lied von der Notwendigkeit zum Sparen gerade von der Bundesregierung hochgehalten. Deutschland profitiert vom Euro, andere – wie die Südländer – haben das Nachsehen in der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion. Hierdurch gerät sie in die Gefahr der politischen Differenzen zwischen den Staaten.

Durch diese neuerliche Transformation der Krise werden die politischen Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten der Euro-Zone mehr und mehr zur eigentlichen Herausforderung. Dies gilt in einem besonderen Maße für den Motor der europäischen Integration, das deutsch-französische Verhältnis. Es wurde in den fünfziger und sechziger Jahren auf Grundlage der Achse Paris-Bonn gegründet, hat sich aber architektonisch mit dem Umzug der Bundeshauptstadt zur Achse Paris-Berlin gewandelt. Dies hat zu einer räumlichen Distanzierung der Hauptstädte geführt, aber das wichtigere Kriterium für die mit den 1990ern einsetzende Veränderung in diesem Verhältnis ist die Vergrößerung der Bundesrepublik von 60 auf 80 Millionen Einwohner_innen. Ein weiteres ist die Veränderung der räumlichen Lage, West- und Ostdeutschland haben keine Randlage mehr, sondern sind ins Zentrum der EU gerutscht. In einem Artikel vom Dezember 2012 wurde verkündet, dass die Symmetrie zwischen Deutschland und Frankreich gebrochen ist. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Brüderle urteilte selbstgerecht: Frankreich spiele nicht mehr auf Augenhöhe. In dieser Wahrnehmung ist das deutsch-französische Verhältnis aus dem Gleichgewicht und auch Frankreich gehört damit zu den Ländern, mit denen Volker Kauder wieder deutsch sprechen will. Der horizontale Ansatz in der EU hat sich in einen vertikalen verwandelt, Deutschland wird wieder wie im 20. Jahrhundert als Vormacht wahrgenommen, geschichtliche Assoziationen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geweckt. Die Substanz von 60 Jahren Friedensdividende wird angenagt.

Für den Bestand der EU und der Euro-Zone ist damit die Frage der politischen Rebalancierung eröffnet, denn durch die Wahrnehmung Deutschlands als Vormacht bei gleichzeitigem Festhalten Merkels an der Austeritätspolitik wird die Krise verschärft. Einen Vorschlag zur Rebalancierung hat Wolf Lepenies gemacht: Zur Rebalancierung der poltischen Kräfte in der Euro-Zone und der EU braucht die französische Regierung einen Schulterschluss mit Italien und Spanien, um sich erfolgreich gegen die Merkelsche Austeritätspolitik zur Wehr setzen zu können. Und in der Praxis sieht der französische Präsident den neuen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta als Verbündeten, um die Bundeskanzlerin mittelfristig zu einer weniger rigorosen Spar- und einer großzügigeren Ausgabenpolitik zu bewegen.

Der Sozialist Francois Hollande hofft auf den Sozialdemokraten Peer Steinbrück als Kanzler, um die Balance wieder herzustellen. Das ist nicht nur auf Grund der Umfragewerte vergebene Hoffnung, sondern auch, weil Steinbrück ein Architekt der Agenda 2010 ist. Eine sozial ausgewogene Politik kann von Rot-Grün nicht erwartet werden. Als Drittes ist die Asymmetrie durch die geopolitischen Veränderungen in der EU selber begründet. Im Januar 2013 haben die französische und die deutsche LINKE anlässlich des 50. Elysée-Jubiläums eine verstärkte Zusammenarbeit beschlossen. Wir wollen mit dem deutsch-französischen Motor von Links dem politischen Zusammenschluss von Frankreich, Italien und Spanien auch in Deutschland Gehör verschaffen, um ein europäisches Gegengewicht zur Merkelschen Austeritätspolitik durchzusetzen. Denn nur mit einem Ausgleich der politischen Ungleichgewichte werden die EU und die Euro-Zone die notwendige Zeit bekommen, auch die wirtschaftlichen Gleichgewichte zu rebalancieren.