Das EU-China-Abkommen ist ein Scharnier für das Projekt „Neue Seidenstraße“, das vermutlich bis in die Mitte des 21. Jh. weitreichende geopolitische Veränderungen nach sich ziehen wird.

EU-China-Abkommen

Strategische Souveränität

 

China steht derzeit im Ruf, innerhalb weniger Jahre die weltgrößte Volkswirtschaft werden zu können und den USA den Rang abzulaufen. Am 30. Dezember 2020, am vorletzten Tag der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, wurde eine grundsätzliche Einigung in den seit 2013 unter dem Titel „EU-China Comprehensive Agreement on Investment (CAI)“ laufenden Verhandlungen zwischen der EU und der Volksrepublik China verkündet. Es heißt in einer Erklärung der EU-Kommission vom November 2020, dass die EU und China strategische Märkte sind, die am Tag ein durchschnittliches Handelsvolumen von über einer Milliarde Euro haben. Ein Freihandelsabkommen EU-China soll in den nächsten Jahren folgen.

Die Verhandlungskompetenz für ein solches Abkommen hat die EU erst seit dem In-Kraft-Treten der Lissabonner Verträge Ende 2009. Beides, Chinas Aufstieg und die Herausbildung der EU zeigt die globale politische Entwicklung der Entstehung neuer Zentren und spiegelt den derzeitigen Kampf um die globale Vorherrschaft zwischen den USA, China und der EU als den drei größten Machtblöcke auf dem Planeten wieder. Dieser Kampf findet nebenbei bemerkt im technologischen Prozess der Digitalisierung statt, der Aufstieg Chinas und seiner Märkte kann nicht davon abgekoppelt betrachtet werden.

Signifikant an dem Vorgang ist das mit den USA unabgestimmte Vorgehen der EU, es ist Ausdruck des derzeit erschütterten transatlantischen Verhältnisses. Schon in der Zeit der Präsidentschaft von Barack Obama (2009 – 2017) hat sich Amerika verstärkt dem pazifischen Raum zugewendet. Hierin wurde z.T. eine Vernachlässigung der EU durch die USA und eine beginnende Differenz in den politischen Zielsetzungen und Bündnisabsichten gesehen.

Während der Amtszeit von Trump (2017 – 2021) ging diese Differenz bis tief in die Substanz des nordatlantischen Bündnisses NATO, das 1949 als Machtinstrument für den Kalten Krieg gegründet wurde. Es wurde als obsolet (Trump) und Gehirntod (Macron) eingestuft. Die Bundeskanzlerin erklärte die USA als nicht mehr zuverlässige Bündnispartnerin und das Schlagwort „Strategische Souveränität“ kletterte ganz hoch auf die Tagesordnung von EU und Bundesregierung.

Die Umsetzung der strategischen Souveränität wird sowohl im Aachener Vertrag mit seiner militärischen Beistandsklausel zwischen Frankreich und Deutschland (Kerneuropa), mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ oder Pesco), aber auch mit dem Europäischen Verteidigungsfond (EVF) verfolgt, der mit der Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021 – 2027 in Kraft tritt und erstmals 13 Milliarden Euro Volumen für militärische Forschung und Ausrüstung hat. Beides sind Projekte, um die EU zu einer eigenständigen Kraft gegenüber den USA und in der NATO zu machen. Die Linke im Bundestag wendet sich gegen die Militarisierung der EU und bereitet eine Klage gegen den EVF vor.

Doch die Umbrüche der Weltordnung reichen viel tiefer, wie auch der Brexit zeigt. Der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU war vom Verlust des Autonomiestatus der ehemaligen britischen Kolonie Hong Kong begleitet. Während Premier Johnson noch halbherzig politisch protestierte, haben große britische Traditionsbanken aus Geschäftsgründen längst Kotau vollzogen und dem neuen chinesischen Sicherheitsgesetz für Hong Kong applaudiert. Der politische Sonderstatus ist nicht 2049, sondern 2019 gefallen, United Kingdom ist nach dem Brexit global geschwächt.

Der Sturm des Kapitols in Washington DC am 6. Januar 2021 bei der förmlichen Bestätigung der Wahl des President-elect Joe Biden durch das Electoral College unterstreicht erneut das Szenario einer tief gespaltenen USA, die vor weiteren jahrelangen inneren Konflikten stehen. Deren Selbstbeschäftigung geht mit einer fortgesetzten außen- und weltpolitischen Schwächung einher. Der begonnene Rückzug von der Rolle als Weltpolizist wird unter Präsident Biden weitergehen.

Nach den Niederlagen der USA in den Kriegen in Afghanistan, Irak und Syrien kann das Instrument, „Einen Krieg führen, um die Union zu einen“, kaum erneut verwendet werden. Die entschieden kriegerische Antwort von George W. Bush auf die Anschläge vom 11. September 2001 war zu einem größeren Teil doch auch durch die damalige Spaltung der US-Gesellschaft nach dem umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahr 2000 begründet.

Es hat sich als nur kurzfristig hilfreich erwiesen. Nach 20 Jahren Krieg und keiner Rückzugsoption sind die USA heute müde, können ihre Niederlagen aber nicht eingestehen. Das neoimperiale Zentrum des politischen Westens steht auf fragilen Füßen, es ist nicht klar, ob und in welcher Form der Westen als Bündnis fortdauert. Nach dem Brexit jedenfalls fängt der Atlantik an der französischen Küste an, die EU ist kontinental geworden.

Das EU-China-Abkommen und das geplante Freihandelsabkommen ist vor diesem Hintergrund ein Scharnier für das Projekt „Neue Seidenstraße“, das von China ausgehend über Zentralasien bis nach Südeuropa laufen soll. Es wird vermutlich bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts weitreichende geopolitische Veränderungen nach sich ziehen, durch die die politische Weltkarte neu gezeichnet wird.

Auch eine strategisch souveräne EU sollte bei diesem Wandel in keinem Fall vergessen, das sie als Lehre aus zwei Weltkriegen und als Friedensprojekt gegründet wurde. Ebenso sollte reflektiert werden, dass der Aufstieg Chinas vom Aufstieg einer kapitalistischen Systemalternative zum westlichen Kapitalismus begleitet ist, der einer genauen und kritischen Betrachtung durch Die Linke bedarf.