Wer ist denn der Feind, mit dem die Aufrüstung der EU begründet wird? Russland, China, USA, Iran, der Algorithmus, die Künstliche Intelligenz oder alle zusammen?
Strategische Souveränität der EU
Bedrohung: Geheimdokument
Am 25. und 26. Februar hat ein EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs staatgefunden, auf Grund der aktuellen Corona-Situation im virtuellen Format und nicht in Brüssel. Als erster Punkt stand auch gleich die Pandemie und der weitere EU-politische Umgang damit auf der Tagesordnung. Im Vordergrund stand neben der gemeinsamen Impfstoffstrategie und der Verantwortung für das aktuelle Chaos die Vorbereitung und Einführung eines digitalen Impfpasses.
Wahlweise wird über Sonderrechte für Geimpfte im Rahmen der aktuellen, mit der Pandemie begründeten Freiheitsbeschränkungen diskutiert oder über eine Art »speedy-lane« beim Boarden und Reisen, wie es z.B. von easyJet mit dem »speedy-boarding« bekannt ist. Besonderes Interesse an einem Digitalen Impfnachweis haben die EU-Länder wie Griechenland und Spanien, deren Wirtschaft hauptsächlich auf Tourismus ausgerichtet ist und denen eine zweite ausgefallene Urlaubssaison erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde.
Es wurde auch über die Covax-Initiative gesprochen, mit der Impfstoffe an 92 Staaten vergeben werden sollen, die niedrige und mittlere Einkommen haben. Die Fazilität wird gemeinsam von der Impfstoff-Allianz Gavi, der Coalition for Epidemic Preparedness Innovation (CEPI) und der Weltgesundheitsorganisation WHO mit dem Ziel geleitet, die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen gegen das COVID-19-Virus zu beschleunigen und einen fairen und gerechten Zugang für jedes Land der Welt zu gewährleisten. Die EU-Kommission wurde aufgefordert, bis Juni 2021 einen Bericht über die bisherigen Lehren aus der Corona-Pandemie vorzulegen.
Der dritte Teil des EU-Gipfel ist in der deutschen Berichterstattung weitgehend hinten runtergefallen, vermutlich auch, weil es um das in der öffentlichen Diskussion notorisch schwierige Verhältnis von Sicherheit und Verteidigung geht. Als zentrales Element wurde erneut über das Vorhaben der strategischen Souveränität der EU in der NATO gesprochen und das meint in erster Linie, die EU will zukünftig mit den USA auf Augenhöhe verhandeln und einen eigenen sicherheitspolitischen Standpunkt vertreten. Es ist nicht zufällig, dass dieser Punkt nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der EU an Fahrt aufnimmt. Besonders neu und politisch originell ist der Punkt allerdings nicht.
Er zeigt im Grunde eine Wiederanknüpfung an die außenpolitische Linie von Charles de Gaulle und seinen Versuchen, Frankreich nach dem II. Weltkrieg gleichberechtigt in den Kreis der Weltmächte zu führen. De Gaulles Vision war eine veraltete Sehnsuchtsromantik, die auf die Hochzeit des französischen Empire im zu Ende gehenden imperialistischen Zeitalter zurückschaute und nicht die bevorstehenden Aufgaben der Nachkriegszeit vorausschauend in den Blick nahm. Die Souveränitäts- oder Dekolonisierungsbewegungen haben Frankreich erhebliche Kosten und verlorene Kriege im damaligen Indo-China (Vietnam) und Algerien gebracht, eine innenpolitische Aufladung bis zum Bürgerkrieg, die V. Republik und den Wechsel vom französischen Kolonial-Empire zum EWG-Bündnis. Der Elysée-Vertrag von 1963 war ein zentraler Baustein dieser Architektur, in dem die französisch-britische Feindschaft noch einmal sichtbar wurde.
West-Deutschland hat demgegenüber in der Kontinuität vom Mai 1945 auf das transatlantische Verhältnis, die Bindung an das liberale United Kingdom und die Schutzmacht USA gesetzt. Diese Kontinuität ist durch die Präsidentschaft von Donald Trump so tief erschüttert, dass Angela Merkel die USA in den Fragen der Verteidigung eine unsichere Partnerin genannt hat. Der ehemalige Außenminister Gabriel (SPD) warf gar die Frage auf, ob die USA einmal ein Feind werden könnten? Der Aachener Vertrag von 2019 mit seiner militärischen Beistandsklausel zwischen Frankreich und Deutschland und die erneute Hervorhebung der Idee der strategischen Autonomie, mit der die EU eine militärische Eigenbefähigung aufbauen will, sind auch Konsequenzen dieser Feststellung. Aus Sicht der Amerikaner kommt damit die Losung des ersten NATO-Generalsekretär an einem weiteren Punkt in Gefahr. Lord Ismay erklärte die Ziele des 1949 gegründeten Bündnisses mit den knappen Worten: »Keep the Russians out, the Americans in and the Germans down«.
Im transatlantisch orientierten Amerika wurde die Befürchtung formuliert, dass die strategische Souveränität der EU langfristig dazu dienen könnte, »the Americans« rauszuschmeißen. So war es deutlich mehr als ein symbolischer Auftritt, den der neue US-Präsident Biden am 19. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK) gegeben hat. Er formulierte eine gemeinsame Bedrohung der demokratischen Prozesse in den USA und Europa und konstatierte: »the trans-Atlantic Alliance is back«. Doch Karl Marx schrieb, Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, als Farce. Arnold Schwarzenegger prägte in seiner Rolle als Terminator den unvergessenen Satz: »I´ll be back!«. Bestes Hollywood, aber die Welt ist kein Kino, nicht einmal ein B-Movie. Mit Joe Biden ist ein letzter Vertreter des goldenen Zeitalters der USA in das Weiße Haus eingezogen. Er repräsentiert mit Geburtsjahr 1942 eine Generation, die ihre primäre und sekundäre Sozialisation in den fünfziger und sechziger Jahren durchlebt hat und so mag es sein, dass der Satz von Biden auf der MSK wie bei de Gaulle aus dem sehnsuchtsvollen Blick in die Größe einer vergangenen Weltmachtposition gespeist ist.
Die Rahmenbedingungen der globalen Machtarchitektur haben sich in der Tat weithin verändert, es gibt keine Anerkennung mehr für die Weltordnung, die nach dem Ende der Sowjetunion von George Herbert Walker Bush proklamiert wurde. So wurde zwar auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Wahl von Biden als US-Präsident begrüßt, aber die zentrale außenpolitische Schlussfolgerung der EU nicht revidiert. Sie ist eben auch eine Konsequenz aus dem Brexit, dem Aufstieg Chinas und dem offenen Ringen um eine neue multipolare Weltordnung, in der die USA nicht mehr die Position des Weltsheriffs haben. Die EU will als aufsteigende Macht nicht abseitsstehen. Der EU-Gipfel hält ausdrücklich an seiner strategischen Agenda 2021-2024 fest, will »die Fähigkeit der EU zum autonomen Handeln steigern«, bekennt sich aber zugleich zu den vertraglichen Bindungen im Rahmen der NATO und ihres globalen Auftrags.
Ratspräsident Charles Michel hat in einem Videostatement nach dem EU-Gipfel die Erarbeitung eines strategischen Kompasses für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis März 2022 angekündigt, also kurz vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich. In der Richtschnur für die Zielvorgaben soll festgelegt werden, was genau die EU können soll und was nicht. Grundlage für die Erarbeitung ist eine Ende 2020 erstellte Bedrohungsanalyse auf Grundlage von nachrichtendienstlichen Einschätzungen. Nachtigall, ick hör dir trapsen. Die Studie ist als »Geheim« eingestuft und liegt nicht öffentlich vor, sie wird dem Bundestag als gesetzgebendem Organ nicht einmal als Verschlusssache (VS-NfD) zur Verfügung gestellt. Die Linke im Bundestag hat wiederholt Einsicht in das Dokument gefordert und ihre Position noch einmal gegenüber dem Bundestagspräsidenten formuliert. Es ist doch gerade diese Geheimnistuerei, aus der heraus Spekulation, Unterstellung und Fake News entstehen. Wer ist denn der Feind, mit dem die Aufrüstung der EU begründet wird, Russland, China, USA, Iran, der Algorithmus, die Künstliche Intelligenz oder alle zusammen?
Das Vorhaben der strategischen Autonomie der EU ist ein militärischer Aufrüstungsprozess, den Kommissionspräsidentin von der Leyen im November 2019 mit dem Satz bedacht hat: »Europa muss die Sprache der Macht lernen«. Die technischen Instrumente hierfür sind u.a. die Stärkung »des zivilen und militärischen operativen Engagements der Union durch einen verbesserten Kräfteaufwuchs, effizientere Planung und Führung auf EU-Ebene sowie eine robuste Umsetzung der Europäischen Friedensfazilität, die rasch einsatzbereit sein sollte«. Die Möglichkeiten der militärischen Zusammenarbeit soll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) in den Bereichen der Investitionen, der Einsatzbereitschaft und der gemeinsamen Fähigkeitenentwicklung ausgeschöpft werden. Die Entwicklung eines konkreten Technologie-Fahrplans durch die Kommission wird bis Oktober 2021 eingefordert.
Die »Friedensfazilität« ist der euphemistische Name für einen Finanztopf in Höhe von 5 Milliarden Euro, der in der zweiten Entwicklungsstufe im Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021-2027 (MFR) implementiert ist und mit dem ausschließlich militärische Projekte finanziert werden sollen. Mit dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) sollen die nationalen Verteidigungsinvestitionen koordiniert, ergänzt und verstärkt werden, eine 80%ige Ko-Finanzierung ist vorgesehen, so dass doch immerhin 25 Milliarden Euro als Gesamtsumme zusammenkämen. Im hinteren Teil der Schlussfolgerungen wird auf die schnelle Annahme des EVF, sein Inkrafttreten und seine Einsatzbereitschaft gedrängt.
Dieser Vorgang ist im nächsten Schritt an die Zustimmung der Mitgliedstaaten zum Eigenmittelbeschluss für den MFR 21-27 und dem Resilienz- und Aufbauprogramm Next Generation EU (NGEU) in Höhe von 1,875 Billionen Euro gebunden. Die Abstimmung darüber wird voraussichtlich noch im März auf die Tagesordnung des Bundestages kommen. Die Linke stimmt gegen den Europäischen Verteidigungsfonds, im Dezember 2018 hat Die Linke im Europäischen Parlament hierzu ein Rechtsgutachten von Andreas Fischer-Lescano vorgestellt, in dem diese Finanzierungspraxis als nicht vereinbar mit den Lissabonner Verträgen herausgearbeitet wird. Die Linke im Bundestag hat eine Kleine Anfrage zum strategischen Kompass an die Bundesregierung gestellt.
Link: Rechtsgutachten bestätigt: Europäischer Verteidigungsfonds ist illegal
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