Bei der Wurst versteht der Brite ebenso wenig Spaß wie bei der königlichen Familie – eine Zwischenbilanz zum Brexit:

Post-Brexit-Phase

Es geht um die Wurst

»Wir halten die Freiheit in unseren Händen«, sagte der Britische Premierminister am Morgen des Brexit. Aber seit dem 1. Januar 2021 sind viele Fragen im Zusammenhang mit der Post-Brexit-Freiheit und ihren Regelungen unbeantwortet geblieben. Angesichts der Corona-Pandemie und den schweren Schicksalsschlägen, denen die königliche Familie ausgesetzt ist und deren breite Berichterstattung in der Yellow Press, spielen sie derzeit in der britischen Öffentlichkeit nur eine untergeordnete Rolle.

Zur Erinnerung: Am 23. Juni 2016 hat eine knappe Mehrheit im United Kingdom im Rahmen eines Referendums für das Ausscheiden aus der EU votiert. Erst mehr als viereinhalb Jahre später war dieser hoch dramatische Prozess nach mehreren Etappen inklusive »Scheidungsjahr« abgewickelt, in dem mehrere Regierungen gescheitert sind und einige irreguläre Neuwahlen nötig wurden. Am 24. Dezember 2020 einigten sich das VK und die EU auf ein Handels- und Kooperationsabkommen, das seit dem 1. Januar 2021 vorläufig anwendbar ist.

Während das Vereinigte Königreich das Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) bereits ratifiziert hat, steht die Zustimmung auf Seiten der Europäischen Union noch aus. Sowohl das Europäische Parlament (EP) als auch der Europäische Rat (ER) müssen dem Abkommen noch final zustimmen. Das EP hat Ende April als Zeitraum für die Abstimmung benannt, doch auf der vorläufigen Tagesordnung war der Punkt am 21. April für die letzte Sitzungswoche im April noch nicht aufgeführt. Nun ja, der nächste offizielle EU-Rat findet auch erst am 24. Juni statt. Bis dahin wird das TCA vorläufig angewendet.

Die Bilanz der ersten 100 Tage nach dem Brexit war bezüglich des Handels durchwachsen. Die Schwankungen der Währungsnotierungen, die Unübersichtlichkeiten bei den Ein- und Ausfuhren, der hohe Verwaltungsaufwand, der teilweise altmodisch meterhohe Papierberge und komplizierte Wege produziert, geben im ersten Trend einen eher negativen Ausblick. Dies gilt auch für die Handelsbilanz. Aber es wäre unter den Bedingungen der Corona-Pandemie unseriös, nach drei Monaten ein klares Urteil über die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen des Brexit zu ziehen.

Im Politischen hingegen ist zumindest eine häufig geäußerte Befürchtung eingestellt. In den vergangenen Wochen kam es in Nordirland häufiger zum Aufflammen von gewalttätigen Auseinandersetzungen, die an den blutigen Krieg zwischen Irland und dem britisch besetzten Nordirland im vergangenen Jahrhundert erinnern. Hintergrund ist die trennende Grenze zwischen EU und UK, die nun über die Insel läuft, aber auch entlang der 12-Meilen-Seegrenze. Das stellt nicht nur die Logistik der Güterversorgung vor schwierig zu überwindende Hürden, sondern auch die Bewohner:innen und ihre alltäglichen Grenzkontrollen und Handels- und Geschäftsbarrieren.

Mehrfach haben in den vergangenen Wochen nächtliche Unruhen und Ausschreitungen das Medienbild geprägt. In den Berichten wurde in Anlehnung an den alten Nordirland-Konflikt von einem Kampf zwischen Katholiken und Protestanten gesprochen. Politisch substanzieller ist der Wunsch der Iren nach der Wiederherstellung der politischen Einheit der Insel und der Rückweisung der britischen Präsenz »Brits Out«. Probritische Unionisten lehnen das Nordirland-Protokoll ab, weil sie darin eine Gefährdung ihres Status Quo entdecken. Traditionell sind die Iren dem Katholizismus, die Briten jedoch dem Protestantismus verhaftet. Vor allem junge Leute haben in Belfast Straßensperren errichtet und Barrikaden angezündet, die Polizei schritt ein, es gab auf beiden Seiten Verletzte.

So steht das von Anfang an unter besonderem Schlaglicht stehende Nordirlandprotokoll weiter im Zentrum eines Streits zwischen EU und UK. Um Kontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Staat Irland zu vermeiden, sieht das Nordirlandprotokoll Warenkontrollen bei der Einfuhr britischer Güter und Lebensmittel in die britische Provinz vor. Damit sollten erneute Spannungen in der Region vermieden werden, aber die Sonderregeln führten zu Lieferengpässen. Aber die EU-Kommission besteht auf der strengen Kontrolle der Warenlieferungen zwischen Großbritannien und Nordirland. Es geht um die Wurst, die die Briten nicht mehr einfach so in Nordirland einführen dürfen oder Rosensträucher mit britischer Erde dran. Und bei der Wurst versteht der Brite ebenso wenig Spaß wie bei der königlichen Familie.

Johnson will die Zeit nutzen, in der die EU das Austrittsabkommen noch nicht ratifiziert hat, um das von ihm selbst mit ausgehandelte Nordirland-Protokoll einseitig zu verändern. Er sagte: »Wir entfernen, was wir als unnötige Ausstülpungen und Hindernisse empfinden, die aufgekommen sind, und reißen die Schlingen ab und schleifen es in Form«. Eine andere politische Möglichkeit besteht darin, einen Mechanismus zur Aussetzung des Protokolls über Artikel 16 auszulösen. Der Artikel erlaubt beiden Seiten die Möglichkeit zu Maßnahmen, wenn es zu schwerwiegenden und vermutlich lang anhaltenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Problemen oder zur Verlagerung von Handelsströmen kommt. Zur Lösung des Nordirland-Problems haben die Iren ein Referendum über die politische Einheit der Insel ins Spiel gebracht, dann wäre sie wiederum vollständig Mitglied in der EU.

Auch in Schottland ist die Sehnsucht nach der EU immer noch groß, diese Sehnsucht ist mit den nie gestorbenen schottischen Unabhängigkeitsträumen von London gekoppelt. Die erste Ministerin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) hat im April Pläne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nach 2014 bekräftigt. Ob es erfolgreich angesetzt wird, wird auch von den Ergebnissen bei den schottischen Parlamentswahlen am 6. Mai abhängen. Die SNP hat in den Wahlumfragen teilweise bei 50% gelegen, steht im Moment noch über 40%. Konservative und Sozialdemokraten bewegen sich um die 20-Prozent-Marke.

Johnson lehnt beide Referenden strikt ab und will die Einheit des United Kingdom erhalten. Doch warum sollte ein Referendum über den Austritt aus der EU ok sein, ein Referendum über die Freiheit vom UK aber nicht?