Einen Artikel über die politische Lage in Deutschland wenige Tage vor der Verkündung des Ergebnisses im Mitgliederentscheid der SPD zum Koalitionsvertrag zu veröffentlichen, ist nicht ohne Risiko. Aber das ist es nie. Denn wir leben schon seit längerem in Zeiten, in denen auf die Frage: „Und was ist Morgen?“ die Antwort mit einem schweren Ausatmen lautet: „Morgen ist ja schon wieder alles ganz anders!“
Seit der Wahl vom 24. September ist Angela Merkel eine geschwächte Kanzlerin, die seit fünf Monaten nicht in der Lage ist, eine Regierung zu bilden. Sie geht wie Helmut Kohl 1994 ihrem politischen Amtsende entgegen. Von Horst »Die-Heimat« Seehofer wollen wir erst gar nicht reden. Die SPD ist auf ein Ergebnis gestürzt, wo gerade noch eine Zwei vorne steht. Union und SPD erscheinen dieser Tage wie zwei Passagiere der Titanic, die noch nicht begriffen haben, dass diese den Eisberg schon gerammt hat. Der Unmut in beiden Parteien ist groß und zugleich verwundert, dass er so verhalten bleibt. Eine erneute Koalition aus CDU/CSU und SPD wird den sichtbar gewordenen Umbruch in der Parteienlandschaft nicht abbremsen.
Im Vorfeld der Mitgliederbefragung in der SPD über den ausgehandelten Koalitionstext wurden sämtliche Register der Dramaturgie gezogen. Ohne auf die personellen Debatten einzugehen, zeigt die Demoskopie einen Niedergang für die „Große“ Koalition in den Zustimmungswerten von 53% (am Wahltag) auf 45% bis 46% (heute). Für die SPD ist ein Abrutschen von 20,5% auf 15% eingetreten, sie lag erstmals hinter der AfD. Einer Verweigerung der Zustimmung musste also angesichts des durchaus als realistisch einzustufenden Szenarios getroffen werden, dass Union und SPD nach einer Neuwahl erstmals seit 1949 keine Mehrheit im Parlament mehr hätte und die SPD nur noch drittstärkste Kraft im Parlament wäre.
Bliebe für Merkel zum Machterhalt die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Bei dieser ist jedoch ein vorzeitiges Scheitern angestrebt, denn die oppositionellen Kräfte lauern hier prinzipiell auf einen günstigen Moment, um die schwache Regierung scheitern zu lassen und bei Neuwahlen eine Mehrheit zu bekommen. Mit einer Minderheitsregierung sind die politischen Verhältnisse unsicherer. Aber im Falle vorgezogener Neuwahlen droht die gleiche Schlagzeile: „Große Koalition ohne Mehrheit – Was nun?“
Der Bundestag als Legislativorgan kann sich derweil in »Business as usual« üben. Er führt nicht nur die Geschäfte, denn er wurde ja am 24. September 2017 ordentlich neu gewählt und musste nach Vorschrift im Grundgesetz spätestens nach 30 Tagen das erste Mal zusammentreten. Für dieses Zusammentreten wurde die Geschäftsordnung des Bundestages verändert, weil man keinen Alterspräsidenten der AfD zulassen wollte, der möglicherweise eine völkisch angefärbte Rede gehalten hätte, in deren Zentrum eine Relativierung oder gar Leugnung des Holocaust hätte stehen können.
Da jedoch mit 45 Parlamentsjahren der dienstälteste Abgeordnete Wolfgang Schäuble zugleich Kandidat für das Amt des Bundestagspräsidenten war, hat er die Rolle dem zweitlängsten Parlamentarier überlassen. Hermann Otto Solms gab sich auch sogleich den persönlichen Gefühlen hin, die der Wiedereinzug der FDP in ihm ausgelöst hatte. Selbstgefälliges Schneuztuchgerede, das der Eitelkeit eines Christian Lindner kaum hinterher stand.
Als nächstes wurden die Ausschüsse konstituiert, die ordentlichen Mitglieder und ihre Stellvertreter*innen durch die Fraktionen bestimmt. Lieber falsch ausschussen als gar nicht, lautet hier die Devise. So ist immerhin fünf Monate nach dem Wahlsonntag die Arbeitsfähigkeit des Parlaments bis auf eine gewählte und tragfähige Regierung hergestellt. In den umliegenden Ländern schaut man eher mit Kopfschütteln auf diesen Prozess. Unabhängig vom Ausgang der Mitgliederbefragung wird der Bundespräsident nach dem 4. März wieder ins Scheinwerferlicht rücken, weil auf seine Initiative die Wahl der Kanzlerin auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt wird. In den Wochen vom 12. März bis 23. März wird der Bundestag zu zwei aufeinanderfolgenden Sitzungswochen zusammentreten und hier wird der Erwartungsdruck so oder so hoch sein.
Wie schon in der 17. Wahlperiode bin ich ordentliches Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Nicht nur auf Grund der Wahl zum Europäischen Parlament voraussichtlich vom 23.-26. Mai 2019 wird die EU eines der zentralen Themen der Wahlperiode für den Bund. Die Pläne für ein Kerneuropa und ein eigenes Euro-Zonenbudget werden sicherlich vorangetrieben. Auch die Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmen von 2021-2027 wirft ihre Schatten voraus.
Mit dem Ausscheiden der Briten wird ein jährliches Finanzloch von geschätzt 10% – 14% des EU-Haushalts zu decken sein. Das entspricht auf sieben Jahre je nach Lesart zwischen 70 und 100 Milliarden Euro. Momentan wird über eine Erhöhung des Budgets gestritten, aber auch über Kürzungen. Es steht zu befürchten, das gerade Ostdeutschland und die ostdeutsche Landwirtschaft wieder zum Sparschwein der Republik gemacht werden sollen. Dem werde ich mich mit ganzer Kraft entgegenstellen.
Die Union hat sich in den Jahren der Krise als belastbarer erwiesen, als ihr das viele zugetraut hätten. Dennoch sind die Uneinigkeiten im Trend unübersehbar geworden. Auch die Terminsetzung der Verkündung des SPD-Referendums hat eine europäische Dimension. Es geht an diesem Tag nicht nur um das Zustandekommen einer Regierung in Deutschland und die Wahl des Oberbürgermeisters in Frankfurt (Oder), am 4. März wird auch in Italien gewählt. Italien hat in den vergangenen Jahren viele Dramen, Opern und Arien erlebt, die allesamt bühnenreif wären.
Mit dem prognostizierten Wahlergebnis in Italien werden ab dem 5. März in Rom Koalitionsgespräche zwischen Forza Italia, Lega Nord, Fratelli d’Italia und Partito Democratica befürchtet. In Österreich ist die Freiheitliche Partei „nur“ Juniorpartnerin der Regierung. In Italien säße ein neofaschistisches Bündnis unter Leitung von Silvio Berlusconi am Lenkrad, wenn das Ergebnis wie prognostiziert ausfällt. Angesichts dieser Situation möchte man auf die Frage: „Und was ist Morgen?“ mit einem Blick in den Himmel antworten: „Morgen? Morgen ist zum Glück wieder alles ganz anders.“
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