Am 30. September hat die EU-Kommission erstmals einen Bericht über die Rechtstaatlichkeit in der Europäischen Union veröffentlicht.

EU-Rechtstaatsbericht 2020

Neuer Mechanismus im Pilotversuch

 

Am 30. September 2020 hat die EU-Kommission erstmals einen systematisierenden und vergleichenden Bericht über die Rechtstaatlichkeit in der Europäischen Union veröffentlicht, in dem alle 27 Mitgliedstaaten gleichermaßen berücksichtigt sind. Der nunmehr jährlich zu erarbeitende Bericht steht im Zusammenhang mit dem EU-Rechtstaatlichkeitsmechanismus. Er dient als Grundlage für die Diskussion zwischen EU-Kommission, Parlament und Rat und soll möglichst frühzeitig auf Prozesse in den Mitgliedstaaten hinweisen, die aus Sicht des gemeinsamen Rechtsbestandes der EU problematisch werden können.

Im Wesentlichen werden darin die Bereiche Justiz, Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus und Medienfreiheit und das System von Kontrolle und Gegenkontrolle in den Institutionen betrachtet. Stellungnahmen und Empfehlungen des Europarats werden zur Orientierung berücksichtigt. Einen Vorläufer dieser Diskussion kann man in dem gesonderten Monitorverfahren der weiteren Rechtstaatsreformen in den 2007 neu aufgenommenen EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien erkennen. Dieser war zu Recht auch von der Linken im Bundestag als eine Sondermaßnahme kritisiert worden, die gegen die Gleichbehandlung und gegen die Kopenhagener Kriterien verstoßen hat.

Mit der Eröffnung der Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Polen und Ungarn in den Bereichen Medien und Justiz nach Artikel 7 EUV wurde die Frage der vorausschauenden Betrachtung der Rechtstaatlichkeit der Mitgliedstaaten lauter gestellt. So wurde der Vorschlag formuliert, diesen Prozess eben auf alle Mitgliedstaaten auszuweiten. Im Juli 2019 erfolgte ein Vorschlag der belgischen und der deutschen Regierung zu einem »peer-review-Verfahren«. Es heißt in Stellungnahme der Bundesregierung: »Mit Hilfe dieses Mechanismus soll die Situation der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten regelmäßig analysiert und zwischen den Mitgliedstaaten diskutiert werden. Der Mechanismus hat das Ziel, den Dialog zu Rechtsstaatlichkeitsthemen zu stärken und das gemeinsame Verständnis zu fördern, um mögliche Fehlentwicklungen vor ihrem Entstehen zu vermeiden.«

Dagegen ist grundsätzlich erstmal nichts einzuwenden, allerdings erinnert speziell der letzte Satzteil angesichts der realen Gegensätze in der EU doch eher als ein utopischer Wunsch, in dem die Peitsche nicht erwähnt wird. Denn auf der anderen Seite steht die Diskussion über die Möglichkeit der EU zu einer konditionierenden Finanzpolitik. Das heißt, die Auszahlung innerhalb der EU vereinbarter Mittel soll an die Einhaltung von bestimmten Standards gebunden werden, hier vor allem an die Einhaltung der Rechtstaatlichkeit. Ein erster Verordnungsvorschlag wurde 2018 noch von der Juncker-Kommission vorgelegt [Com (2018) 324 final]. Der neue Rechtstaatlichkeitsbericht soll sowohl auf der Ebene der Europäischen Union als auch auf der jeweiligen nationalen Ebene in den Parlamenten diskutiert werden.

Dies ist der Anlass für die aktuelle Behandlung des Rechtstaatsberichtes im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Probleme bei der rechtlichen Verfolgung von Korruption werden darin für Ungarn, Bulgarien, Kroatien, Tschechien und Malta gesehen. Es wird für Bulgarien, Kroatien, Tschechien und Malta Besorgnis über den politischen Druck auf Medien berichtet. Für Ungarn wird die Übernahme von Medien durch regierungsnahe Unternehmen benannt. Auch verbale Drohungen und körperliche Angriffe auf Journalisten werden angeprangert. Für Deutschland wird die Weisungsbefugnis von Justizministern gegenüber Staatsanwälten kritisch hervorgehoben. Aus Sicht der EU-Kommissions-Vizepräsidentin Vera Jourova besteht dadurch eine Möglichkeit für die Justizminister, politischen Druck auszuüben. Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes fordert angesichts der deutlichen Kritik im Rechtstaatsbericht erneut, diesen Mangel in der deutschen Justizstruktur zu beheben. Er erkennt in der Weisungsbefugnis eine Beschädigung in das Vertrauen gegenüber der Unabhängigkeit der Justiz.

Eine große Zahl der Mitgliedstaaten hat den Bericht und das Verfahren begrüßt, aber z.B. konkret die polnische und die ungarische Regierung verhalten sich dazu kritisch und ablehnend, weil sie Gegenstand der Kritik und der Verfahren sind. Derzeit laufen konkrete Verfahren gegen Polen und Ungarn, um die Gefahr des Verstoßes gegen die Einhaltung der Standards der Pressefreiheit und –unabhängigkeit bzw. der Unabhängigkeit der Justiz zu ermitteln. Im schlimmsten Falle können Stimmrechte entzogen werden.

Ungarns Regierung beklagte den politischen Druck der seitens der EU auf Ungarn ausgeübt wird, die polnische Regierung sieht keine klare Trennung zwischen subjektiven und objektiven Kriterien bei der Einordnung. Ungarn und Polen haben dementsprechend die Feststellungen aus dem Bericht zurückgewiesen. In den anstehenden Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 – 2027 und dem Programm Next Generation EU haben Polen und Ungarn ein politisches Druckmittel bezüglich der Konditionalität in der Hand, weil beide im Konsens abgestimmt werden müssen. Die Regierungen fordern eine Trennung der Konditionierung von Mitteln für den Fall der nicht ordnungsgemäßen Verwendung durch die Mitgliedstaaten und der Feststellung eines Defizits in der Rechtstaatlichkeit.

Das EU-Parlament hingegen besteht mit großer Mehrheit auf einer expliziten Verknüpfung der Faktoren. Die Bundesregierung hat auf Grund ihrer Ratspräsidentschaft einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dieser kommt den Regierungen Polens und Ungarns zu einem großen Teil entgegen und verwässert die Konditionalität bis an die Grenzen der Kenntlichkeit. Da es sich um ein Trilog-Verfahren handelt, ist das Parlament in der Entscheidung mitbestimmungsberechtigt. Wer sich am Ende in der Kraftprobe durchsetzt, ist noch offen. Unabhängig davon scheint mit dem Rechtstaatsbericht ein durchaus sinnvolles Instrument gefunden, mit dem eine überfällige Diskussion auf EU-Ebene und der Ebene der Mitgliedstaaten versachlicht wurde. Der Kriterienkatalog sollte dabei einer laufenden Überprüfung und Weiterentwicklung unterzogen werden. Wenn die EU eine Zukunft haben will, ist es richtig, ja geradezu existenziell, Rechtstaatsverstöße festzustellen und konsequent gegen sie vorzugehen. Allerdings muss die Feststellung eines Verstoßes wiederum in einem rechtstaatlichen Verfahren erfolgen.