Die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen wurde durch den französischen Präsidenten zurückgewiesen, obwohl die EU-Kommission Albanien und Nordmazedonien im vergangenen Jahr die Voraussetzung dafür bescheinigt hat.
Erweiterungspolitik der Europäischen Union
EU treibt Westbalkan auf den Gipfel
EU-Erweiterungspolitik ist immer auch Geopolitik, das heißt, es geht um Macht und Einfluss in definierten Regionen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion drängte das Militärbündnis NATO nach Osten und Europa wurde von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Gemeinschaft und von dort in die heutige Europäische Union überführt und territorial ausgedehnt.
Auf seinem Treffen in der Hotelanlage Porto-Carras vom 19. – 21. Januar 2003 hat der Europäische Rat dem gesamten West-Balkan eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union ausgesprochen. Die öffentlich als »Thessaloniki-Versprechen« bekannte Zusage [einer Aufnahme von Mazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien] sollte auf dem Europäischen Rat am 17./18. Oktober 2019 in einem Beschluss über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien und Albanien weiter umgesetzt werden.
Nach einem fast dreißig Jahre währenden Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien (Griechenland hat eine Grenzprovinz gleichen Namens) wurde in diesem Jahr eine Namensänderung von Mazedonien auf Nordmazedonien durchgeführt. Als Resultat des »Prespa-Abkommens«, das von nationalistischen Kräften als beschämend eingeordnet wird, gab Griechenland seinen Widerstand gegen den Aufnahmebeschluss auf. Noch im Februar 2019 wurde Nordmazedonien in die NATO aufgenommen und der anstehende Ratifizierungsprozess durch die Mitgliedsstaaten soll spätestens 2020 abgeschlossen sein. In dieser Woche hat der US-Senat die Aufnahme in die NATO bestätigt.
Nun mag es berechtigte ökonomische, rechtsstaatliche, politische, soziale und kulturelle Einwände gegen die Aufnahme der beiden Länder in die EU geben. Die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen wurde jedoch auf dem Europäischen Rat vom 17./18. Oktober durch den französischen Präsidenten zurückgewiesen, obwohl die EU-Kommission Albanien und Nordmazedonien im vergangenen Jahr die Voraussetzung dafür bescheinigt hat. Im Falle Nordmazedoniens, wo die Umbenennung und der Aufnahmebeschluss seitens der EU politisch gekoppelt waren, sind diese nicht einmal geltend gemacht worden. Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit wurde gegen Albanien geäußert. Frankreich fordert neue Beitrittsverfahren und wendete sich dagegen, Kandidaten Hoffnungen zu machen, wenn die EU derzeit nicht bereit sei, neue Länder aufzunehmen. Dabei wurde mit einem Blick auch auf den ungelösten Brexit geschielt.
Innenpolitisch steht Frankreich im März 2020 vor schwierigen Kommunalwahlen, die Umwälzung der Parteienlandschaft ist noch voll im Gang. Macron´s la Republique en Marche (LREM) und der rechtsextremistische Rassemblement National (RN) von Le Pen´s versuchen, die amtierenden Bürgermeister (insgesamt 36.000) von den zerfallenden Parteien Parti Socialiste und Les Républicains jeweils auf ihre Listen zu ziehen. So wird Macron nach seiner Kursverschärfung im Asylrecht von Mitte September vermutlich auch aus rechtspopulistischen Gründen ein Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hier vor allem mit Albanien gesprochen haben, aus dem viele Menschen nach Frankreich gekommen sind. Im Unterschied zum föderalistischen Deutschland gibt es in Frankreich z.B. keine Landtagswahlen, die Kommunalwahlen sind die Ausgangsbasis in den Präsidentschaftswahlkampf im Juli 2022. Aktuelle Umfragen sehen Macron bei 30%, Le Pen bei 28%.
Als ein inoffizielles Motiv der Ablehnung durch Frankreich wird die Zurückweisung der französischen EU-Kommissarskandidatin Sylvie Goulard durch den zuständigen Ausschuss im Europäischen Parlament angegeben. Goulard musste 2017 wegen einer Scheinbeschäftigung als Verteidigungsministerin zurücktreten. Macron ist auch persönlich über die neue Kommissionspräsidentin van der Leyen verärgert, die er doch selber namentlich vorgeschlagen und mit durchgesetzt hat. Aber auch Dänemark und die Niederlande haben Bedenken formuliert, Versuche, die Anträge über die Aufnahme der Gespräche einzeln abzustimmen, scheiterten an Griechenland und Italien. Durch den Regierungswechsel in Griechenland von Alexis Tsipras zu den Konservativen ist in Athen eine neue Situation entstanden.
Die Rückweisung Nordmazedoniens hat in Skopje berechtigterweise für starke Enttäuschung und politischen Frust gesorgt, denn die Regierung hat die Namensänderung unter dem Verweis auf die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen, also einem Vertrauensvorschuss, erstritten. Der jetzige Ministerpräsident Zoran Zaev sieht sich von der EU getäuscht und einer massiven innenpolitischen Protestwelle gegenüber. Es ist von willentlich herbeigeführter Demütigung Mazedoniens die Rede, dies ist eine starke und lang anhaltende emotionale Quelle, die für reaktionäre Bewegungen nutzbar sind. Zaev hat nach dem negativen EU-Beschluss seinen Rücktritt für Januar kommenden Jahres angekündigt und für April vorgezogene Neuwahlen. Nun wird die Rückkehr der Nationalisten in die Regierung befürchtet und der Versuch, die Umbenennung rückgängig zu machen.
Die EU hat mit der Ablehnung des Antrags ihren Status der Zuverlässigkeit in der gesamten Region beschädigt und ihre politische Stellung geschwächt, in der Konsequenz hat dies eine Dimension für den gesamten Westbalkan. Die stockenden Friedensbemühungen zwischen Serbien und Kosovo werden noch schwieriger. In Albanien wird der Traum vom Großalbanien (das meint die Angliederung des Kosovo an Albanien) erneuten Auftrieb bekommen. Die tendenziell instabile Republik Bosnien und Herzegowina wird stärkerem separatistischem Druck seitens der Serben und Kroaten ausgesetzt werden. Eine erneute Befassung mit den Aufnahmeanträgen wird im Mai 2020 auf der Tagesordnung des Rates stehen. Ob der nun eingetretene Schaden noch behoben werden kann, ist jedoch zweifelhaft.
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