Am interessantesten beim jetzigen EU-Gipfel ist nicht, was auf der Tagesordnung steht, sondern, was nicht auf der Tagesordnung steht.

EU-Dezembergipfel

Offen bis zum Schluss

 

Am 10./11. Dezember findet der letzte EU-Gipfel in der deutschen Ratspräsidentschaft in Brüssel unter strengen Hygiene-Vorschriften statt. Zum Auftakt stand der reguläre Meinungsaustausch mit dem Präsidenten des EU-Parlaments, David Sassoli, bei einem Mittagessen an. Am interessantesten an diesem Gipfel ist jedoch nicht, was auf der Tagesordnung steht, sondern, was nicht auf der Tagesordnung steht, bzw. stand.

Da klafft als erstes eine große Lücke über das weitere Vorgehen mit den Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 – 2027 (MFR) und der Corona-Aufbau- und Resilienzfazilität, Next Generation EU (NGEU). Dies war ein deutliches Signal an die Regierungschefs in Polen und Ungarn, dass die 25 Mitgliedsstaaten es mit dem Ultimatum, bis Mittwoch eine Lösung für die Blockade zu finden, ernst meinen. Mateusz Morawiecki und Viktor Orban haben den Beschluss zum ausverhandelten MFR (1.050 Milliarden Euro) und NGEU (750 Milliarden Euro) als Revanche für den beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus blockiert. Kommt es zu keinem einstimmigen Beschluss, droht der EU ab Januar ein Nothaushalt mit eingefrorenem Budget.

Im Hintergrund wurde als Drohkulisse unter Hochdruck an einer Lösung gearbeitet, das Corona-Programm NGEU nur mit den 25 Mitgliedstaaten zu starten und Polen und Ungarn dabei außen vor zu lassen. Über zwischenstaatliche Vereinbarungen einer verstärkten Zusammenarbeit ist das im Rahmen der EU-Verträge möglich. Dies wäre für Warschau und Budapest mit Mittelverlusten in Milliardenhöhe verbunden, was unter den Corona-Bedingungen und ihren Folgen für die jeweiligen nationalen Wirtschaften zu einer deutlich stärkeren Belastung führt. Auch ein Nothaushalt im Jahr 2021 hätte zu einer finanziellen Belastung der beiden Staaten geführt.

Unberührt hiervon ist der Rechtsstaatsmechanismus schon mit qualifizierter Mehrheit beschlossen worden. Mit dem schon abgeschwächten Kompromissmodell werden nun Sanktionen finanzieller Art auch praktisch denkbar. Allerdings sind hier noch keine konkreten Summen oder Quoten im Gespräch, dies hat eine sachliche Debatte zusätzlich erschwert. Dementsprechend war das politische Klima aufgeheizt und verstockt. Nach den langen Jahren der intensiven Diskussionen zwischen der EU und Polen und Ungarn um die demokratische Rechtstaatlichkeit und ihre in den Verträgen vereinbarten Standards vor allem in den Bereichen Medien und Justiz hat das Europäische Parlament starken Druck entfaltet.

Nach der Spaltung der Visegrad-Gruppe setzt die Strategie der EU auf die Trennung von Polen und Ungarn. Sie hoffte auf eine Zustimmung Polens, das in dem jetzigen Setting mehr zu verlieren hat als Ungarn unter Orban. Und in der Tat hat der polnische Vize-Premierminister Gowin am Mittwoch eine Einigung zwischen Berlin, Warschau und Budapest verkündet. Sie stimmen dem MFR und NGEU zu, bekommen auf der anderen Seite eine schriftliche Zusatzerklärung, dass der Rechtsstaatsmechanismus nicht auf die Bereiche Familien- und Migrationspolitik angewendet wird. Und er tritt erst nach einer Überprüfung durch den EUGH in Kraft, das dürfte wohl hinter der nächsten Parlamentswahl in Ungarn liegen. Ob die Staats- und Regierungschefs der anderen Staaten das mittragen, war bei Redaktionsschluss noch offen, allerdings wurde eine aktualisierte Tagesordnung vorgelegt, auf dem MFR und NGEU auftauchen.

Auch das zukünftige Verhältnis der Europäischen Union mit dem Vereinigten Königreich (VK) steht nicht auf der Tagesordnung, obwohl hier ebenso die Zeit davonläuft. Denn am 31. Dezember läuft nicht nur der MFR aus, sondern auch der Übergangszeitraum nach dem Austritt des VK aus der EU. Auch hier gibt es verhärtete und verstockte Positionen, die das »Deal-or-no-deal-Szenario« bis zum letzten Tag teils gequält, teils genussvoll ausdehnen. Boris Johnson, der britische Ministerpräsident ist am Mittwoch trotz Corona persönlich zur Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Brüssel gereist. Das Ergebnis des Essens ist eine Fristverlängerung bis zum nächsten Sonntag. Kommt es zu keinem Freihandelsabkommen zwischen EU und VK, werden die Regeln der Welthandelsorganisation greifen und dadurch werden Zollgrenzen errichtet, wo im Moment keine Barrieren stehen.

Die Streitpunkte sind seit Monaten die gleichen. Aber nach dem Wahlsieg von Joe Biden in den USA hat Johnson schlechtere Karten, da sich der gewählte US-Präsident z.B. hinter die Forderungen der EU in der Irland-Frage gestellt hat. Es geht in anderen strittigen Punkten um den künftigen Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern, das hat eher symbolischen Charakter um die nationale Seehoheit, der Fischfang macht 0,12% des britischen Sozialproduktes aus.

Schwerer wiegt da schon die Forderung der EU nach gleichen Wettbewerbsbedingungen – also gleichen Sozial-, Umwelt- und Beihilfestandards für den weiteren Zugang Londons zum EU-Binnenmarkt. London fürchtet hier regulierende Auswirkungen auf andere Abkommen außerhalb der EU, z.B. im Rahmen des alten Commonwealth. Der dritte Punkt ist die Forderung nach einem Streitschlichtungsmechanismus bei Verstößen gegen das Abkommen, der nach Sicht Londons außerhalb des Europäischen Gerichtshofes liegen soll. Hier verweist Johnson in aller Regel auf das CETA-Abkommen zwischen EU und Kanada, das DIE LINKE nicht zuletzt wegen dieser Möglichkeit der intransparenten und nicht kontrollierbaren Streitschlichtung zwischen Konzernen stets abgelehnt hat.

Ein Punkt hingegen, der für den 11. Dezember weiter hinten auf der Tagesordnung steht, ist der inklusive Euro-Gipfel, ein Treffen aller 27 Mitgliedstaaten, obwohl dem Euro-Gebiet nur 19 angehören. Es geht um eine Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM nach Vorbild des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weiterentwicklung einer Banken- und Kapitalmarktunion. Der Präsident der Euro-Gruppe Pascal Donohoe fordert eine höhere Widerstandsfähigkeit und vorausschauende Behandlung gegen neue mögliche Währungskrisen ein. Derweil berichten verschiedene Tageszeitungen parallel über Forderungen aus Italien nach einem weitreichenden Schuldenschnitt.

Nicht zuletzt durch die beschlossenen Corona-Hilfspakete ist der Schuldenstand in Italien noch einmal enorm angestiegen, er lag im Juni 2020 bei rund 150%. Nach dem zweiten Maastricht-Kriterium liegt die maximal zulässige Quote in der Euro-Zone bei 60%. Ein Schuldenschnitt wird aber im Euro-Währungsgebiet nicht nur explizit für Italien durchführbar sein. Die Forderung nach einem Schuldenschnitt ist also mit der gesamten Euro-Zone verbunden. Spätestens, wenn die wirtschaftliche und finanzielle Lage sich im nächsten Jahr durch die Bekämpfung einer dritten Corona-Welle weiter zuspitzt, wird sie an politischer Attraktivität gewinnen.